Einzigartig in Deutschland: In der LWL-Klinik Hemer werden Menschen griechischer Herkunft von griechischen Ärztinnen und Therapeuten behandelt. Denn die Patientinnen und Patienten mit psychischen Störungen können sich nicht nur in ihrer Muttersprache leichter mitteilen. Familienrezepte zu kochen oder Sporttherapie mit griechischem Tanz stärken zusätzlich ihre Resilienz.
Moussaka mit Auberginen? Oder lieber doch einen Pastizio, einen Gyros-Nudelauflauf? Die beiden Frauen sind aufgeregt, das hört man ihren Stimmen an, auch wenn sie griechisch sprechen. Zum ersten Mal werden sie am Freitag für die gesamte Station Gerichte aus ihrer Heimat kochen, als Teil ihres umfangreichen Therapieplans. Denn die Patientinnen werden in der LWL-Klinik wegen Depressionen behandelt. Auf einer Station, die in Deutschland einzigartig ist: Die Behandlung findet hier weitgehend auf Griechisch statt. „Rund 18 Jahre schon sind wir komplett griechisch“, freut sich Ingo Frigge, der pflegerische Stationsleiter. Er ist von Beginn an dabei und berichtet, wie Anfang 2000 Räume in der Klinik frei wurden und „wir merkten, dass es Bedarf für diese Art von muttersprachlicher Therapie gibt.“ Die Termine beim griechischen Oberarzt waren sehr gefragt bei Menschen mit griechischen Wurzeln, die psychisch erkrankt waren – und die Behandlungen zeigten sich besonders erfolgreich. Aus diesem Bedarf heraus wurde ein Konzept entwickelt, das sich seither immer wieder bewährt hat. Inzwischen kümmern sich ein griechischer Oberarzt, eine griechische Stationsärztin, eine griechische Psychologin und eine griechische Kunsttherapeutin um die Menschen auf der „griechischen Station“:
Gesprächspsychotherapie allein oder in der Gruppe, Psychoedukation – alles auf Griechisch. Das erleichtert Patientinnen und Patienten deutlich den Heilungsprozess, da sie dabei eigene Ressourcen aktiv nutzen können. Und seit die Sporttherapie „Griechischer Tanz“ heißt und diesen integriert, nehmen deutlich mehr Patientinnen und Patienten auch daran teil.
Sprache als Identität und Ressource
Wenn Frigge zur Arbeit kommt, begrüßt er seine Patientinnen und Patienten auch schon mal mit „Kalimera!“, „Guten Morgen!“ Viel mehr Vokabular beherrschen er und einige Kolleginnen und Kollegen zwar nicht, „aber alle Betroffenen können natürlich auch deutsch.“ Über die eigenen, oft verwirrenden Gefühle, Ängste und innersten Nöte aber spricht es sich eben doch am einfachsten in der Sprache, mit der man aufgewachsen ist und deren Worte und Nuancen einem am vertrautesten sind. Sie ist zugleich ein Stück Identität und Ressource.
Und sie bietet zumindest etwas stabilen Boden unter den Füßen, wenn Depressionen oder Angststörungen diesen ins Wanken bringen. Erkannt hat man in der psychiatrischen Klinik im nordrhein-westfälischen Hemer ebenfalls schon früh, dass der kulturelle Hintergrund eines Menschen in Diagnose und Therapie unbedingt mit einbezogen werden sollte. Denn psychische Belastungen äußern sich überall auf der Welt ganz unterschiedlich. Berücksichtigt man dies nicht, könnten Symptome leicht übersehen werden oder aber ein der jeweiligen Mentalität entsprechendes Verhalten irrtümlich als Hinweis auf eine seelische Erkrankung interpretiert werden.
Als „Transkulturelle Therapie“ wird dieser Ansatz immer wichtiger. In dem Maße, wie vermehrt Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland leben, soll ihnen bestmöglich geholfen werden können, falls sie eine psychische Störung entwickeln. Die psychiatrischen Kliniken der Vitos-Gruppe etwa haben dazu umfangreiche Initiativen gestartet, zahlreiche Kliniken im Bundesgebiet haben inzwischen transkulturelle Ambulanzen etabliert. Auch in der LWL-Klinik Hemer gibt es zusätzlich eine griechische und eine türkische Ambulanz.
Scham und Stigma entgegenwirken
Psychische Erkrankungen werden auch im östlichen Mittelmeerraum häufig noch anders wahrgenommen als in Westeuropa. Oftmals beharren die Betroffenen darauf, körperliche Leiden zu haben, obwohl dies medizinisch bereits ausgeschlossen werden konnte. „Da braucht man viel Feingefühl und Zeit, damit die Menschen verstehen, dass die Psyche ebenfalls erkranken kann“, sagt Ingo Frigge, dessen Arbeit auch darin besteht, solche Zusammenhänge einfühlsam zu erläutern. Er betont auch den Wert des Sprechens über die eigenen Empfindungen, die dadurch oft erst bewusst werden. Lässt sich eine Patientin, ein Patient trotzdem nicht von seiner/ihrer Meinung abbringen, gilt dies als eine eigenständige, die sogenannte „somatoforme Störung“. Sie tritt oft gemeinsam mit einer Depression oder auch einer Angsterkrankung auf.
Ingo Frigge fügt an:
Das gewohnte kulturelle Umfeld kann jedoch dazu beitragen, die eigene seelische Erkrankung als solche zu akzeptieren, weil es auch dem Bettnachbarn gelungen ist. Wem der Klinikaufenthalt zudem geholfen hat, redet auch Verwandten, Freunden und Bekannten gut zu, die seelisch leiden. „Unsere Patientinnen und Patienten kommen meist aus Nordrein-Westfalen, wir nehmen aber auch Menschen aus Nord- oder Süddeutschland auf.“ Die Wartezeit beträgt in der Regel zwei bis drei Monate, da die Station nur 15 Betten umfasst. Wer in der Nähe wohnt, kann möglicherweise (zunächst) ambulant Hilfe bekommen. Der Erfolg des Konzepts spricht für sich: „Wir hatten schon viele Schwerstkranke auf der Station“, sagt Ingo Frigge, „und es geht ihnen heute richtig gut.“
Moussaka als Selbstwirksamkeit
Die beiden Frauen, die diese Woche griechisch kochen, müssen nicht nur den Einkaufszettel planen und sich abstimmen, sondern auch in die Stadt gehen, um alle Zutaten einzukaufen. Das gelingt oft nur den Patientinnen und Patienten, die mittwochs schon beim Sozialen Kompetenztraining mit auf den Wochenmarkt kommen. „Mancher, der an einer chronischen Depression leidet, hat jahrelang das Haus nicht verlassen“, sagt Frigge. Die beiden Frauen haben diese schwerste Phase schon einige Zeit hinter sich. Am nächsten Tag wehen aus der Stationsküche am Vormittag köstliche Gerüche herüber in den Flur. Dass die Moussaka später als üblich auf dem Tisch steht, weil die beiden Patientinnen nicht genügend Zeit für die Zubereitung eingeplant hatten, „macht nichts“, so Ingo Frigge. „Da sind wir flexibel, und das ist ja auch für die Rückkehr in den Alltag wichtig: Gelassen zu bleiben, auch wenn etwas mal nicht so klappt wie gedacht.“ Die beiden Köchinnen bekommen sehr viel Lob – auf Griechisch und Deutsch.