In einem fremden Land mit einer anderen Sprache, dazu ein unvertrautes Gesundheitssystem und eine psychische Erkrankung: Immer mehr Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung sind damit konfrontiert. Die Vitos Kliniken wollen mit Migrationsbeauftragten, (Video-)Dolmetschen, spezieller Psychoedukation und einem neuartigen Flyer Vorreiter sein für eine bessere Verständigung – was auch Diagnostik und Therapie zugutekommt.
Er hört Stimmen und fühlt sich verfolgt: Zu seinem eigenen Wohl wird der junge Mann deshalb in eine psychiatrische Klinik der Vitos Gruppe eingewiesen. Dort stellen Ärzte die Diagnose „Paranoide Schizophrenie“. Für die Eltern des jungen Patienten ist dies nur schwer zu ertragen, zumal im Herkunftsland der Familie, der Türkei, psychische Erkrankungen noch immer ein großes Tabuthema sind. Doch die Eltern und ihr Sohn werden mit ihren Sorgen nicht alleingelassen: In jeder Vitos Klinik steht Menschen mit Migrationshintergrund eine Migrationsbeauftragte oder ein Migrationsbeauftragter zur Seite. Diese kennen den Kulturkreis von Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen und sprechen, im wahrsten Sinne des Wortes, ihre Sprache. Und das ist nur ein Angebot, mit dem der konzernweite „Arbeitskreis Migration“ Menschen mit Migrationshintergrund bei ambulanten oder stationären Behandlungen bestmöglich unterstützen will.
Migrationshintergrund immer häufiger
Etwa jeder fünfte Patient beziehungsweise jede fünfte Patientin in der Erwachsenenpsychiatrie kommt aus einem anderen Kulturkreis, Tendenz steigend. Vor allem Flüchtlingsbewegungen haben den Zuzug nach Deutschland verstärkt. Diese Menschen haben nicht nur ihre Heimat, ihr bisheriges Leben verloren. Sie haben im Krieg oder auf der Flucht häufig auch Traumatisches erlebt, was psychische Erkrankungen ebenfalls begünstigen kann. Der bereits 2013 gegründete „Arbeitskreis Migration“ nimmt sich ihren Nöten in verschiedenster Hinsicht an, um nicht nur die häufig vorhandene sprachliche Hürde zu mindern. Ayse Kaya, die in der psychiatrischen Fachklinik von Vitos in Gießen hauptberuflich als Gesundheits- und Krankenpflegerin auf einer Station für Menschen mit Traumafolgestörungen wie etwa einer Posttraumatischen Belastungsstörung tätig ist, berichtet:
Seit 2017 ist sie dort zudem als Migrationsbeauftragte aktiv. An der Vitos Akademie hat sie dafür ein Training zur interkulturellen Kompetenz absolviert, das inzwischen immer mehr Mitarbeitende belegen. Ihr eigener Migrationshintergrund erleichtert ihr in vielem den Zugang zu Patientinnen und Patienten, denen es wiederum leichter fällt, sich in ihrer Muttersprache mitzuteilen, Ängste zu äußern und Therapieschritte nachzuvollziehen. Ebenso gehört es zu Ayse Kayas Aufgabenfeld, Mitarbeitende für die kulturelle Identität von Patientinnen und Patienten zu sensibilisieren. „Diese Menschen benötigen mehr Zeit, um in der Klinik richtig ,anzukommen‘“, ergänzt die Migrationsbeauftragte, „sie brauchen Zeit, um die kulturellen Unterschiede zu verstehen, Vertrauen zu fassen und vielleicht auch Schamgefühl zu überwinden.“
Die Sprachbarriere überbrücken
Um das gegenseitige Verständnis zu verbessern, setzte sich Ayse Kaya unter anderem für eine Vernetzung mit dem Regierungspräsidium in Gießen ein, das für die Erstaufnahme von Geflüchteten in Hessen zuständig ist. Daraus entstand auch eine enge Vernetzung bei Dolmetscherdienstleistungen, einem weiteren zentralen Angebot der Vitos Gruppe. Schon seit 2015 kann jede Patientin, jeder Patient bei Bedarf eine Übersetzerin oder einen Übersetzer hinzuziehen. Die Kliniken engagieren dazu Dolmetscherbüros, bevorzugt aus der jeweiligen Region. Vitos verzichtet, wenn möglich, auf Übersetzende aus dem familiären Umfeld von Patientinnen und Patienten, da diese aufgrund eigener Betroffenheit Aussagen möglicherweise nicht objektiv übermitteln.
Seit 2016 können sich auch Mitarbeitende an der Vitos Akademie als Dolmetscher oder Dolmetscherin schulen lassen. Weil aber nicht immer jemand vor Ort verfügbar ist und nicht jede Sprache abgedeckt werden kann, bietet Vitos seit 2019 zusätzlich auch Videodolmetschen als digitale Ergänzung an. Der Vorteil: Auf diesem Weg sind professionelle Übersetzerinnen und Übersetzer in mehr als 60 Sprachen zu jeder Tages- und Nachtzeit kurzfristig erreichbar. Zwei Pilotprojekte an verschiedenen Vitos Standorten hatten zuvor gezeigt, dass Patientinnen und Patienten diese Möglichkeit gerne nutzen und sich die Kommunikation zwischen ihnen und ihren Behandelnden spürbar verbessert. Davon profitiert wiederum die Diagnostik und Therapie.
Wie funktioniert das deutsche Gesundheitssystem?
„Was die Psychiatrie genau ist und welche Krankheiten sie behandelt, wissen nicht alle Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“, sagt Jonas Staudt. „In ihren Heimatländern gibt es diese Fachrichtung oft nicht. Außerdem ist der Arzt meist eine Autoritätsperson, die konkrete Anweisung gibt“, fügt der Abteilungsleiter Unternehmensentwicklung bei der Vitos Holding hinzu.
Ungewohnt sei es für viele Menschen mit Migrationshintergrund auch, bei einer Erkrankung, insbesondere einer psychischen Störung, selbst medizinische Hilfe zu suchen – auch mangels Kenntnissen über das deutsche Gesundheitssystem. Vor diesem Hintergrund hat Staudt ein Pilotprojekt geleitet, das auf dem Handbuch „Interkulturelle Psychoedukation für Menschen mit Migrationshintergrund“ basiert: Auf 145 Seiten werden Themen wie das deutsche Gesundheitswesen, Vorsorge und die häufigsten psychischen Erkrankungen erklärt – in arabischer und türkischer Sprache. In Gruppensitzungen erläuterten Therapeutinnen und Therapeuten die einzelnen Aspekte, bei Bedarf wurde eine Dolmetscherin oder ein Dolmetscher hinzugezogen. Die Rückmeldungen waren durchweg positiv, eine Studie gemeinsam mit der LWL Klinik Dortmund wertet aktuell die Ergebnisse aus. Vitos plant, auch dieses Angebot dauerhaft zur Verfügung zu stellen. Ein mehrsprachiger Flyer zum Thema „Migration“ informiert neue Patientinnen und Patienten darüber, dass ihnen Ansprechpersonen in ihrer Sprache, Dolmetschende und weitere Informationsangebote kostenlos zur Verfügung stehen.
Seit der junge Mann aus der Türkei entlassen wurde, besucht die Migrationsbeauftragte ihn und seine Familie regelmäßig zu Hause. Sie erläutert das Krankheitsbild und seinen Verlauf und die Nachsorge der Therapie in einer ambulanten Tagesklinik. Schon auf Station half sie, das Geschehen besser einzuordnen. Sie kommt auch dem Wunsch der Familie nach, möglichst frühmorgens vorbeizuschauen, wenn die Nachbarn noch schlafen. Die Furcht ist groß, dass Verwandte in der Heimat von der Erkrankung erfahren könnten. Denn, wie auch in diesem Fall: Oft werden psychische Erkrankungen nicht als solche verstanden. Nicht nur Migrationsbeauftragte haben hier noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.