Psychische Erkrankungen sind seit Jahren der häufigste Grund für Frühverrentungen. Digitalisierung, Personalabbau mit Mehrarbeit für die Beschäftigten und eine gänzlich neue Arbeitssituation durch die Corona-Pandemie lassen immer mehr Menschen ihr Berufsleben als stressig und krankmachend erleben. Ein Mittel dagegen? Die Stärkung der eigenen Resilienz.
Mobil. Agil. Instabil? Die Arbeitswelt ist im Wandel und bringt für Beschäftigte eine Vielzahl von Herausforderungen mit sich. Nicht alle sind diesen Herausforderungen gleichermaßen gewachsen. Neben Termindruck, geringen Gestaltungsmöglichkeiten, häufigen Unterbrechungen und ständiger Erreichbarkeit können zum Beispiel auch räumliche Verdichtung oder das Auflösen von festen Arbeitsplätzen (bekannt als „Desk Sharing“) zum Stressfaktor werden. Besonders in Krisenzeiten kann zudem die Angst davor, den Arbeitsplatz zu verlieren, belasten. Und nicht zuletzt sehen sich viele Angestellte permanenten „Changes“ gegenüber, also betrieblichen Restrukturierungen, deren Sinnhaftigkeit sich nicht immer erschließt. Vielen Beschäftigten bereitet diese Realität Stress. Zuviel Stress macht auf Dauer jedoch krank. Körperlich oder auch psychisch.
Psychische Erkrankungen waren 2020 mit 17,1 Prozent der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit, wobei Mitarbeitende im Schnitt 38,8 Tage fehlten1. Diese Zahl ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen2. Ebenso ist mit knapp 42 Prozent fast jede zweite Frühverrentung psychisch bedingt3. Nicht immer ist die Arbeit die (alleinige) Ursache. Genau wie nicht alle neuen Entwicklungen bei der Arbeit per se eine Gefährdung bilden. Gerade die Digitalisierung kann auch Chancen bieten, sagt Dr. Matthias Bender, Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Kurhessen. Doch: „die Abhängigkeit von der Technik und das Gefühl, sie nicht gut zu beherrschen, kann Stress auslösen“. „Viele Mitarbeitende mussten sich mitunter sehr plötzlich umstellen, was auch zu Stress führen kann“, ergänzt Dr. Peter Wehmeier, stellvertretender Klinikdirektor des Vitos Waldkrankenhauses Köppern bei Frankfurt.
Pandemie brachte weitere Stressoren
Weitere potenzielle Stressfaktoren kamen durch die Corona-Pandemie erschwerend hinzu: Für manche war und ist das Homeoffice eine willkommene Abwechslung. Andere litten jedoch unter der Vermischung von Privat- und Berufsleben, die für die Partnerschaft oder das Familienleben Konfliktpotenzial barg. Dr. Matthias Bender sagt:
Depressionen, Angst- und Suchterkrankungen nahmen zu. In der Klinik wurden mehr Menschen behandelt, die an einem Burnout oder etwa an Schlafstörungen litten, wie Matthias Bender berichtet. Gemeinsam mit Peter Wehmeier hat er im Jahr 2021 das Buch „Stress am Arbeitsplatz“ veröffentlicht. Darin finden sich viele Ideen, wie Betroffene mit Stress besser umgehen können. Zumal Stress auch zu Schmerzen führen kann, für die es keine organische Ursache gibt. „Dann ist eine psychosomatische Behandlung angezeigt“, sagt Dr. Doris Klinger, stellvertretende Direktorin der Vitos Klinik für Psychosomatik Weilmünster.
Damit es bei Stress vielleicht gar nicht erst dazu kommt, „ist es wichtig, im Alltag und gerade auch im Homeoffice für eine feste Routine zu sorgen, mit genügend Pausen und angenehmen Aktivitäten“, sagt Peter Wehmeier, „ganz besonders, wenn jemand zum Grübeln neigt.“ Soziale Kontakte sollten erhalten bleiben. Auch, wenn man sich manchmal nur digital sehen kann. Selbstfürsorge beugt Stress ebenfalls vor oder mindert ihn. Dazu gehören gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und Bewegung. „Und helfen Sie anderen“, empfiehlt der Arzt, „Fremdfürsorge trägt dazu bei, dass man sich gebraucht fühlt und weniger allein.“
Seelische Widerstandskraft hilft zu Akzeptanz
Warum aber kommen manche Menschen besser mit Veränderungen am Arbeitsplatz klar als andere oder leiden scheinbar weniger unter den Folgen der Pandemie, privat oder im Beruf? Das Zauberwort lautet: Resilienz. „Damit wird die seelische Widerstandskraft eines Menschen beschrieben“, erläutert Matthias Bender. Wer über ein hohes Maß an Resilienz verfügt, erkranke bei einer deutlichen psychischen oder auch physischen Belastung nicht oder nur vorübergehend mental. „Solche Menschen können Widersprüche und Ungewissheiten gut ertragen. Und sie richten ihr Leben an Orientierungslinien aus, die ihnen etwa die eigene Familie bietet, das soziale Umfeld oder auch ein spiritueller Weg“, ergänzt Matthias Bender.
Resilienz lässt sich trainieren
„Lange hat man angenommen, dass diese Fähigkeit eine Charaktereigenschaft ist“, so der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, „doch inzwischen weiß die Forschung, dass sich Resilienz auch trainieren lässt.“ Eigene Kraftquellen wie eine intakte Familie, gute Freundinnen und Freunde oder auch ein Ehrenamt können dazu beitragen. „Resilienzförderung beginnt aber vor allem bei dem, was einem Menschen noch fehlt, um herausfordernde Situationen zu bewältigen“, so Matthias Bender. Welche Ressourcen lassen sich stärken? Hilfreich dazu sind unter anderem Psychotherapie, Bildung, Präventionsprogramme und Rehabilitation. So können Betroffene ein Bewusstsein dafür entwickeln, was ihnen guttut. Oder wie sie etwa ihre Beziehungen erfüllender gestalten, sodass sie sich selbst dadurch sicherer fühlen. „Auch der achtsame Umgang mit dem eigenen Körper ist wichtig“, fügt der Mediziner an, „er braucht Pflege und Bewegung, um als Kraftquelle erlebt zu werden.“ Körperliche Gesundheit ist ein wesentlicher Faktor für seelische Gesundheit und Widerstandkraft. Resilienz selbst wiederum ist ein Prozess, der sich verstärkt, je mehr jemand dafür tut.
Über je mehr Resilienz ein Mensch verfügt, umso selbstwirksamer ist er auch. Matthias Bender sagt:
Im modernen Arbeitsleben ist das nicht immer einfach. Resilienz zeichnet sich hier auch dadurch aus, dass jemand ändert, was er ändern kann. Und akzeptiert, was sich nicht ändern lässt – und versucht, einen für sich stimmigen Umgang damit zu finden.