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Keine Kraft mehr bis zur Rente?

Der Akku ist leer, aber die Rente steht noch nicht an? In der LVR-Klinik Viersen behandelt die Station G3 Menschen ab 58 Jahren, die von ihrer Arbeit erschöpft sind und eine Depression entwickelt haben. Dr. Timm Strotmann-Tack, Chefarzt der Gerontopsychiatrie/-psychotherapie, über entlastende Gespräche, neue Perspektiven und warum er den Begriff „Burnout“ vermeidet.

 

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Dr. Timm Strotmann-Tack Copyright © LVR

Dr. Timm Strotmann-Tack, Sie haben an der LVR-Klinik Viersen eine Station für Menschen ab 58 Jahren eröffnet. Wieso wurde das notwendig?

Uns fiel auf, dass immer wieder Patientinnen und Patienten mit einer Depression zu uns kommen, die ähnliches schildern: Sie sind Mitte, Ende 50, können noch nicht in Rente gehen und haben gleichzeitig das Gefühl, ausgepowert zu sein, vollkommen erschöpft, und es nicht mehr bis zum eigentlichen Rentenalter zu schaffen. Sie wissen nicht, wie sie die verbleibenden Jahre im Beruf bewältigen sollen. Sie haben den Eindruck, keine Kraft mehr zu haben und auch nicht mehr Schritt halten zu können mit Neuerungen am Arbeitsplatz, etwa durch die Digitalisierung. Sie fürchten, zum alten Eisen zu gehören. Manche würden deshalb auch gerne früher in Rente gehen, können sich das wegen der finanziellen Einbußen aber nicht leisten. Letztlich sagen all diese Betroffenen: ,Mein Akku ist leer, ich kann nicht mehr.‘ Für diese Menschen wollten wir mit der Station G3 ein spezielles Angebot schaffen.


Mit welchen Symptomen kommen die Menschen zu Ihnen?

Das sind vor allem Symptome einer Depression mit Rückzugstendenzen, Antriebsmangel, Hoffnungslosigkeit, Zukunftsängsten, deprimierter Grundstimmung, geringem Selbstwert, Schlafstörungen. Manchmal kommen körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen oder Grummeln im Bauch dazu, für die es aber keine organischen Ursachen gibt und die psychisch bedingt sind. Besonders bei Männern können starke Gereiztheit und ein übersteigerter Bewegungsdrang dazu kommen, wir sprechen dann auch von einer ,agitierten Depression‘. Alle Patientinnen und Patienten eint das Gefühl, im Beruf überfordert und völlig erschöpft zu sein. Häufig ergeben sich dadurch weitere Probleme, etwa in der Partnerschaft, oder auch Suchttendenzen.


Die Station G3 gehört zur Gerontopsychiatrie, die eigentlich erst Menschen ab 65 Jahren behandelt. Ist das kein Hindernis?

Tatsächlich fühlen sich manche unserer Patientinnen und Patienten dafür zu jung, die Akzeptanz ist zu Beginn der Behandlung gelegentlich noch nicht so groß. Wir befinden uns aber auch immer noch in der Startphase der Station, daher ist noch nicht so bekannt, wie sehr Betroffene von unserem Ansatz profitieren können.


Was können Sie für diese Patientinnen und Patienten tun?

Häufig ist es schon sehr hilfreich, krankgeschrieben zu werden und sich durch die stationäre Aufnahme bei uns der Alltagsbelastung entledigt zu fühlen. Wir behandeln mit Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Ergotherapie, Physio- und Musiktherapie. Der Fokus liegt dabei besonders darauf, die Menschen wieder in die Lage zu versetzen, ihr Leben wieder selbstständig zu meistern und möglichst in die Berufsstätigkeit zurückzukehren. Befreiend sind vor allem die Gespräche.

Viele, die zu uns kommen, sprechen zum ersten Mal über das, was sie bedrückt, ihre Schwierigkeiten, ihre Ängste und Zweifel – und es hört ihnen jemand zu.

Sie finden erstmals Worte dafür, was sie lange, wie man sagt, in sich hineingefressen haben. Das ist zu einem Wackerstein im Magen geworden, der sich durchaus mit entsprechenden Beschwerden wie Magenschmerzen oder Verdauungsproblemen äußern kann. Gerade Männern fällt es normalerweise nicht leicht, sich zu öffnen und über sich zu reden. Tauschen sie sich bei uns auch untereinander aus, hat das fast schon den Wert einer Selbsthilfegruppe.


Reden hilft?

Wir reden nicht einfach nur miteinander, wir befassen uns auch mit dem Eigenanteil: Was hat der betreffende Mensch selbst dazu beigetragen, dass es ihm oder ihr aktuell nicht gut geht, und was kann er oder sie tun, um eine neue Perspektive zu bekommen?


Worin zeigt sich der Eigenanteil?

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Foto von Kampus Production (Pexels)

Wir fragen etwa: Wie kommen Sie mit Mitarbeitenden oder Kolleginnen und Kollegen klar? Gibt es Mobbing? Wenn ja, was kann das ausgelöst haben? Gibt es einen Part von Ihnen, der dazu geführt hat, dass Sie mit den anderen nicht mehr klargekommen sind? Wie ist es mit geregelten Arbeitszeiten? Sind Sie morgens pünktlich? Schaffen Sie Ihre Arbeit während des Tages oder machen Sie viele Überstunden? Können Sie trotz Personalmangels Grenzen setzen und ,Nein‘ sagen, wenn Ihnen immer mehr Arbeit aufgebürdet wird? Natürlich können Beschäftigungsverhältnisse nach 30, 40 Jahren dazu führen, dass der Akku leer ist. Aber es wäre zu einseitig zu denken, mehrere Jahrzehnte Frühschicht allein haben die eigene Misere verursacht. Deshalb vermeide ich auch den Begriff ,Burnout ‘, obwohl dieser landläufig für die Symptome unserer Patientinnen und Patienten häufig verwendet wird.

 

Weil ,Burnout‘ keine offiziell anerkannte Erkrankung ist, anders als eine Depression oder Anpassungsstörung?

Das ist richtig. Aber vor allem legt das Wort nahe, dass jemand ,gebrannt‘ hat für seinen Job – wegen der Chefin oder dem Chef, wegen des Unternehmens oder der wirtschaftlichen Gesamtlage ist das eigene Feuer jedoch erloschen. Hier fehlt der Blick auf den eigenen Anteil. Wir möchten, dass unsere Patientinnen und Patienten sich weniger als Opfer fühlen, und Verantwortung dafür übernehmen, ihr Leben selbst in andere Bahnen zu lenken.

 

Ist der Eigenanteil erst bewusst, entstehen dann Ideen, was sich verändern ließe?

In der Gesprächstherapie regen wir zum Beispiel an, ob man sich innerbetrieblich umorientieren könnte. Wurde schon mit der Chefin, dem Chef darüber gesprochen, ob dies möglich wäre? Manche trauen sich nicht, mit ihrer oder ihrem Vorgesetzten darüber zu reden. Das besprechen wir dann auch. Oder könnte nicht noch während der Behandlung ein Termin mit der Personalabteilung vereinbart werden, um zu besprechen, wie es weitergehen könnte? Kommt jemand in seinem Team nicht klar, besteht vielleicht auch die Möglichkeit, in eine andere Abteilung zu wechseln. Der Blick richtet sich nicht mehr zurück, sondern nach vorne. Das ist besonders hilfreich, wenn Betroffene, sobald es ihnen besser geht, von der Station in die Tagesklinik wechseln. Tagsüber kommen sie zur Therapie, aber sie übernachten zu Hause. So entsteht ein allmählicher Übergang zurück in den Alltag.


Gibt es Erfolgsgeschichten?

Die gibt es immer wieder. Wir bekommen erstaunlich oft Dankesbriefe, die sehr bewegend sind. Einige kehren in ihren alten Job zurück, andere finden einen neuen. Ich erinnere mich an einen Patienten, dem mit 57 Jahren gekündigt worden war. Er war in der Tagesklinik, als er eines Tages sagte, er müsse sich verabschieden, weil er kommende Woche seine neue Arbeitsstelle antrete.

 

Besteht ein Angebot, das ehemalige Patientinnen und Patienten auch nach dem Aufenthalt in der Tagesklinik unterstützt?

Es gibt im Kreis Viersen verschiedene ZwAR-Selbsthilfegruppen wie etwa in Nettetal, Brüggen oder in Kempen. Die Abkürzung steht für ,Zwischen Arbeit und Ruhestand‘ und das Angebot wendet sich bundesweit an Menschen ab 55 Jahren. Nicht jede Gruppe befasst sich auch mit sozialen Fragen, das ist vor Ort zu klären. Die Klinik Viersen ist zudem 2023 dem Netzwerk ,Selbsthilfefreundlichkeit und Patientenorientierung im Gesundheitswesen beigetreten. Und wir arbeiten mit BIS zusammen, der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe im Kreis Viersen.

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