2025 feiert der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK) sein 40-jähriges Bestehen. Die Gründer mussten sich noch dagegen wehren, dass Angehörige beschuldigt wurden, psychische Störungen in ihren Familien auszulösen. Heute hat der Verband klare Forderungen an das Gesundheitssystem. Ein Interview mit der stellvertretenden Vorsitzenden Heike Petereit-Zipfel.
Frau Petereit-Zipfel, Ihr Verband nennt sich auch „Familien-Selbsthilfe Psychiatrie“. Was bedeutet das?
Bei uns engagieren sich Menschen, die selbst Angehörige psychisch erkrankter Menschen sind. Sie beraten ehrenamtlich ratsuchende Angehörige telefonisch an unserem ,SeeleFon‘ oder auch per Email. Schon das Zuhören und Verstehen kann sehr entlastend wirken, allerdings können wir keine Therapie anbieten oder Krisenintervention. Daher setzen wir uns auch auf politischer Ebene dafür ein, dass einerseits psychisch erkrankte Familienmitglieder die für sie optimale Behandlung und Begleitung erhalten und andererseits unsere Anliegen und Bedürfnisse als Angehörige ebenfalls besser gesehen und berücksichtigt werden.
Mit welchen Fragen wenden sich Angehörige an den Bundesverband oder auch die Landesverbände?
Das ist ein ganz breites Spektrum: Wo bekomme ich welche Hilfe? Wie kann mein psychisch erkrankter Angehöriger Sozialleistungen beziehen? Wo kann ich selbst finanzielle Unterstützung beantragen? Wie ist das mit der Krankenversicherung für ein Kind, wenn die Eltern diese nicht mehr bezahlen? Wie gehe ich damit um, wenn mein Angehöriger aggressiv auf mich reagiert? Was kann ich tun, wenn mein Angehöriger sich in einer akuten Krise das Leben nehmen will? Oft ist es aber auch so, dass Menschen einfach jemand zum Reden brauchen und nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Unsere Beratenden empfehlen dann in der Regel, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen, in der Angehörige mit ähnlichen Erfahrungen sich austauschen und gegenseitig beraten. Die Belastung vieler Angehöriger ist enorm: Oft verlieren sie Kontakt zu Freunden, sind schließlich sozial isoliert, vor allem, wenn jemand in der Familie unter einer Psychose, einer Angststörung oder einer Depression leidet. In der Gesellschaft gibt es insbesondere gegenüber Menschen, die Psychosen erleben, und ihren Familien noch immer viele Vorurteile. 2022 habe ich an der Katholischen Hochschule in Freiburg eine Studie zum Unterstützungsbedarf der Angehörigen und Nahestehenden psychisch erkrankter Menschen durchgeführt. Wir arbeiten derzeit an der Veröffentlichung der Ergebnisse.
Was raten Sie Angehörigen, wenn ein Familienmitglied gerade eine schwere psychische Krise durchlebt?
Angenommen, jemand steckt in einer akuten psychotischen Krise, hat beispielsweise Todesangst vor gruseligen Wesen, die in einem See um sein Bett schwimmen und kann sich nicht beruhigen. Es ist dann hilfreich, selbst ruhig zu bleiben, mit kurzen Sätzen emphatisch zu äußern, dass man sich Sorgen macht, die Angst zwar gut nachvollziehen kann und das dies schrecklich sein muss, aber auch zu sagen, dass man selbst die Wesen nicht sieht und dass man helfen möchte. Manchmal klappt es dann auch, die Person dafür zu gewinnen, einen Arzt aufzusuchen oder in die Klinik zu fahren. Der BApK bietet immer wieder Weiterbildung für Angehörige an, in denen auch vermittelt wird, wie sie in Krisen am besten vorgehen. Auch „Mental Health First Aid“ ist ein umfassendes Programm, mit dem Menschen in einem zwölfstündigen Kurs lernen können, Erste Hilfe bei psychischen Krisen zu leisten.
Und was ist mit der Polizei unter 110 oder dem Ärztlichen Notdienst unter 116117?
Die Polizei kann nichts machen, wenn nicht unmittelbar das Leben des Betroffenen oder einer anderen Person gefährdet ist. Oft versuchen Beamte dann, einen Arzt oder eine Ärztin aus dem Bereitschaftsdienst oder einer psychiatrischen Klinik hinzuzuziehen. Verneint die betroffene Person jedoch suizidgefährdet zu sein, kann sie gegen ihren Willen nicht zwangseingewiesen werden. Beim Ärztlichen Notdienst wiederum hängen Sie oft 20 bis 40 Minuten in der Warteschleife. Und dann werden Anrufer nur beraten, wenn sie ein Rezept von einem Arzt für eine Beratung haben. Das funktioniert also auch nicht. Und selbst, wenn all dies gelingen würde, fehlt oft im Hintergrund in den meisten Regionen ein verlässlicher Krisendienst, der zeitnah vor Ort unterstützen kann.
Krisendienste gibt es ja, wo liegt Ihrer Ansicht nach das Problem?
In Berlin und Bayern sind sie in der Tat flächendeckend erreichbar, aber in anderen Bundesländern gibt es große Lücken.
Wie könnte eine Lösung für solche Krisensituationen aussehen?
Wir schlagen vor, dass die bisher ungenutzte Notrufnummer 113 dafür zur Verfügung gestellt wird. Das ginge sogar europaweit. Dazu gehören funktionierende Krisendienste, insbesondere auch auf dem Land. Vor allem aber setzen wir uns für eine vorwiegend ambulante Behandlung und kontinuierliche sowie individuelle Betreuung psychisch erkrankter Menschen und ihrer Familien ein.
Was wäre der Vorteil einer überwiegend ambulanten Versorgung?
Es könnte präventiv viel erreicht werden. Denn dazu würde gehören, dass der Kontakt während gesunder Phasen nicht abbricht; dass in längeren Abständen mal jemand vorbeikommt und schaut, wie es dem Betroffenen und der Familie geht.
Eine solche Beziehungsarbeit schafft Vertrauen. Mancher Krise ließe sich in einem frühen Stadium begegnen. Und hat jemand gute Erfahrungen gemacht, wird er selbst in einer schweren Krise auch eher auf eine solche Person hören. Für uns als Angehörige wäre es ebenfalls leichter, wenn wir wüssten, wir müssen jetzt nicht wieder die ganze Familiengeschichte erzählen. Gleichzeitig braucht eine Familie gerade in suizidalen Krisen eine engmaschigere Unterstützung, weil die Unsicherheit groß ist und die Sorge, dass etwas schiefgeht. Die stationsäquivalente Behandlung (StäB), worauf gesetzlich Versicherte seit wenigen Jahren einen Rechtsanspruch haben, bei der Behandlerinnen und Behandler aller beteiligten Professionen ihre Patienten zuhause aufsuchen, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Für die Angehörigen fehlt aus Sicht unseres Verbandes bisher eine verlässliche, qualitativ gesicherte Beratung für Angehörige, die ihnen konkret Hilfen an die Hand gibt. Dazu müsste eine Weiterbildung entwickelt werden, die berufsbegleitend gemacht werden kann von Menschen, die selbst Angehörige sind. Wir brauchen außerdem gut geschulte Mitarbeitende in allen Bildungseinrichtungen, die rechtzeitig und unterstützend auf junge Menschen zugehen können, die Hilfe brauchen.
Der Verband hat auch Vereinbarungen mit einzelnen Kliniken getroffen. Worum geht es dabei?
Im Mittelpunkt steht der Dialog mit den Angehörigen bei gleichzeitiger Berücksichtigung des Willens der Patienten und Patienten. Wir bemühen uns etwa darum, dass Angehörige sich mit ihrem erkrankten Familienmitglied ohne Dritte in einen Raum zurückziehen können, der auch etwas ansprechender eingerichtet ist – um dort vertraulich zu reden. Auch drängen wir darauf, dass die Klinik immer wieder Patienten darauf anspricht, ob die Schweigepflicht von Ärzten und Pflegekräften aufrechterhalten bleiben soll. In einer akuten Psychose werden Angehörige oft in Wahnsysteme mit eingebaut. Beginnen die Medikamente aber zu wirken, würden viele Betroffene es schätzen, wenn die eigene Mutter oder der Bruder mehr erführen und etwas berichten könnten, wozu sie selbst nicht in der Lage sind. Und wir wünschen uns, dass in Kliniken eine größere Offenheit besteht, Angehörige im Verlauf eines Klinikaufenthalts proaktiv einzubinden.