Schon Grundschulkinder können die Gaming- oder Internetsucht entwickeln, Jugendliche zudem eine Abhängigkeit von Alkohol oder Cannabis. Dr. Ulf Thiemann, Chefarzt der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der LVR-Klinik Bonn erklärt, welche Warnzeichen Eltern beachten sollten, wo sie Hilfe bekommen und was sie auf keinen Fall tun sollten.
Herr Dr. Thiemann, wonach werden Kinder und Jugendliche am häufigsten süchtig?
Bei jüngeren Kindern treten vor allem ,Verhaltenssüchte‘ auf. Dazu gehört insbesondere das intensive Nutzen digitaler Medien, von sozialen Netzwerken sowie von Computer- und Videospielen, wir sprechen hier von Gaming- oder Internetsucht. Das beginnt schon im Grundschulalter. Je älter Kinder und Jugendliche werden, desto mehr können auch andere, sogenannte substanzgebundene Süchte auftreten, vor allem Abhängigkeit von Alkohol und Cannabis. Besonders gefürchtet ist hier der gleichzeitige Konsum, der schnell zu lebensbedrohlichen Situationen führen kann.
Woran könnten Eltern bemerken, dass ihr Kind eine Sucht entwickelt hat?
Ganz allgemein, wenn bisher bedeutsame Aktivitäten oder Interessen vernachlässigt werden, ihr Kind sich immer mehr zurückzieht und seine Freunde nicht mehr trifft, nicht mehr regelmäßig zur Schule geht und womöglich nur noch in seinem Zimmer sitzt. Auf Internetsucht kann hindeuten, wenn Kinder besonders ablehnend oder mit starken Aggressionen auf Grenzen reagieren, die ihre Eltern ihnen setzen wollen. Manche versuchen zu manipulieren, um weiter online gehen zu können. Eltern von jungen Patientinnen und Patienten berichten mir zuweilen, dass sie die Videospielkonsole mitnehmen, wenn sie das Haus verlassen, um sicherzustellen, dass in ihrer Abwesenheit nicht gezockt wird.
Und was deutet auf eine mögliche Cannabis- oder Alkoholsucht hin?
Anhaltende Unkonzentriertheit, Benommen- oder Betrunkensein, Fahrigkeit oder ungewohnte Aggressivität als mögliche Entzugserscheinung. Ebenfalls sozialer Rückzug und der Verlust bisheriger Interessen. Häufiges Bitten um Taschengeld-Erhöhungen oder einfach um Geld könnten darauf hinweisen, dass die Jugendlichen eine Sucht finanzieren wollen.
Was können Eltern tun, wenn sie Anzeichen etwa für eine Gaming-Sucht bemerken?
Eltern sollten versuchen, mit ihren Kindern zu reden, um zu verstehen und einordnen zu können, wofür ihre Kinder sich interessieren und wie sie ihre Zeit verbringen. Zentral dabei ist, die Kinder und ihr Verhalten nicht zu bewerten. Es ist wichtig am Ball zu bleiben, selbst wenn die ersten Versuche, miteinander zu sprechen, vielleicht scheitern. Kommen Eltern aber nicht richtig weiter, treffen Kinder ihre Freundinnen und Freunde nicht oder ist sogar der Schulbesuch gefährdet, dann sollten Eltern professionelle Hilfe für ihre Kinder in Anspruch nehmen. Erste Ansprechperson bei Kindern sind die Kinder- und Hausärzte und -ärztinnen. Zudem gibt es ein gut ausgebautes Netz an Erziehungsberatungsstellen, die teilweise auch medienpädagogische Schwerpunkte haben und Beratungen anbieten: Wie viel Bildschirmzeit wird für welches Alter empfohlen, welche, auch technischen Möglichkeiten gibt es für Eltern, Einfluss zu nehmen?
Wo finden Eltern Hilfe, wenn Kinder oder Jugendliche sich komplett verweigern?
Meist kommen Eltern mit ihren Kindern an irgendeinem Punkt ins Gespräch. Das ist wichtig, denn für eine Verhaltensänderung, zumal eine Therapie, ambulant oder stationär, sind Freiwilligkeit und die Bereitschaft zur Veränderung zentrale Voraussetzungen. Von den Eltern hingeschleppt zu werden, aber selbst keine Einsicht zu haben, reicht nicht. Nur in sehr seltenen Fällen gilt dieser Aspekt der Freiwilligkeit nicht mehr: Wenn Kinder oder Jugendliche das Haus oder sogar das eigene Zimmer nicht mehr verlassen, sie keine sozialen Kontakte ,draußen‘ mehr haben, am Familienleben nicht mehr teilnehmen und auf die Ansprache gar nicht reagieren, ist durch Gespräche mit der Kinderärztin oder dem Hausarzt oder auch mit einem Kinder- und Jugendpsychiater zu prüfen, ob die Situation mit einer Gefährdung für das eigene Kind verbunden ist. Wenn ja, verfasst der jeweilige Arzt oder die Ärztin eine medizinische Stellungnahme für das Familiengericht. Hier können Eltern dann einen Antrag darauf stellen, dass ihr Kind auch gegen seinen erklärten Willen in eine Behandlung kommt. Aber das ist glücklicherweise sehr selten der Fall.
Was ist falscher Alarm und einfach nur „Pubertät“?
Es gehört zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, dass sich Interessen ändern. Wenn Kinder oder Jugendliche das Fußball- oder Tanztraining aufgeben, das sie bislang so sehr geliebt haben, ist das nicht sofort ein Hinweis auf eine Gefährdung – sofern andere Hobbys oder Aktivitäten an diese Stelle treten. Digitale Medien gehören heute schon früh im Leben dazu. Die Auseinandersetzung damit ist nicht per se bedrohlich, sondern eine Aufgabe auch der Erziehung, die von Kindern und Eltern bewältigt werden muss. Hinzu kommt:
Ohne diese Option wären die psychischen Folgen, die wir beobachtet haben, gerade für junge Menschen noch gravierender gewesen. Auch Alkohol ist überall und jederzeit verfügbar, in Deutschland haben Jugendliche schon ab 16 legal Zugang dazu. In diesem Alter wollen sie sich ausprobieren und müssen zugleich ihren eigenen Umgang damit finden.
Was sollten Eltern auf keinen Fall tun?
Zeichen einer Sucht bei ihren Kindern ignorieren und glauben, das wachse sich schon aus. Auch sollten sie selbst kein negatives Vorbild abgeben. Wenn Eltern selbst ihre ganze Freizeit am Smartphone oder Computer verbringen, beim Essen Mails checken oder WhatsApps beantworten, verhallen Aufforderungen an die Kinder natürlich, jetzt mal was anderes zu machen, rauszugehen oder sich ein Buch zu nehmen. Das Gleiche gilt für den Konsum von Alkohol.
Warum werden Kinder und Jugendliche süchtig?
Das ist immer individuell. Aber es gibt bestimmte Risikofaktoren. Nehmen die Eltern etwa Drogen oder sind sie alkoholabhängig? Häufig besteht für die eigenen Kinder dann eine größere Gefahr, selbst auch diese Sucht zu entwickeln. Die Einnahme von Substanzmitteln geht außerdem häufig mit einer psychischen Störung einher, das gilt auch bei Eltern, die süchtig sind. Wobei man nicht immer klar sagen kann, was zuerst da war, die psychische Erkrankung oder der schädliche Konsum. Die Disposition für eine Sucht kann ebenso vererbt werden wie die für eine psychische Störung. Hinzu kommen die psychosozialen Umstände. Wie stabil oder instabil ist die Familie, in der ein Kind heranwächst? Gibt es feste Bezugspersonen oder eher nicht, kommen Umbrüche und Lebensereignisse wie Migration, Entwurzelung, Krankheit oder Tod eines nahen Angehörigen hinzu, die die Kontinuität der persönlichen Entwicklung gefährden können?
Inwiefern kann Cannabis-Sucht eine psychotische Störung begünstigen?
Es gibt eine hochgradige Verbindung zwischen dem Missbrauch und der Abhängigkeit von Cannabis und dem Auftreten psychotischer Störungen. Wir nehmen an, dass bei Betroffenen eine gewisse ,biologische Vulnerabilität‘ oder ,Verletzbarkeit‘ dafür besteht, von der sie vorher nichts wussten. Der Drogenkonsum ist dann ein weiterer Belastungsfaktor, wie bei einem vollen Regenfass, das ein zusätzlicher Tropfen Wasser zum Überlaufen bringt. Hinzu kommt, dass die Entwicklung des Gehirns erst im Alter zwischen 20 und 30 Jahren abgeschlossen ist und nicht etwa mit der Volljährigkeit. Missbrauch oder die Abhängigkeit von Cannabis kann diese Entwicklung stark beeinträchtigen, gerade bei Jugendlichen, deren Gehirn sich durch natürliche Reifungsprozesse noch entwickelt. Eine psychotische Störung ist eine extreme Konsequenz, aber es gibt auch andere nachteilige Folgen: ein Rückgang des Handlungsantriebs, der Motivation, etwas aus seinem Leben zu machen. Und das in einer Phase, in der Jugendliche eigentlich den Chancen und Möglichkeiten des Lebens begegnen.
Wo finden Eltern Hilfe, wenn das Kind süchtig ist?
Eine erste Anlaufstelle bietet das Forum für den Austausch mit anderen Angehörigen sowie mit Expertinnen und Experten.