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Schmerzen körperlich und seelisch betrachten – und behandeln

Chronische (Rücken-)Schmerzen belasten das Leben vieler Menschen. Um ihnen nachhaltig zu helfen, kooperieren in Viersen die LVR-Kliniken für Orthopädie und Psychosomatik. Dr. Ljiljana Joksimovic, Psychotherapeutin und Chefärztin der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, erläutert das fachübergreifende Konzept der multimodalen Schmerztherapie.
 

Frau Dr. Joksimovic, was ist das Besondere an multimodaler Schmerztherapie?

Es handelt sich um einen noch recht jungen, fachübergreifenden Ansatz. Bei uns in Viersen kooperieren dazu bereits seit einigen Jahren die LVR-Klinik für Orthopädie und die nahegelegene psychiatrische und psychosomatische LVR-Klinik  zum Wohle chronisch schmerzkranker Patientinnen und Patienten. Gemeinsam wird erörtert, wie die Behandlung aussieht, welche Medikamente individuell sinnvoll sind, es werden unter anderem Entspannungsverfahren vermittelt und Wissen über Schmerzentstehung.

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Was ist davon am wichtigsten?

In unserem Team stehen alle beteiligten Fachrichtungen und Behandlungsaspekte gleichberechtigt nebeneinander. Beteiligt sind Medizinerinnen und Mediziner, Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Schmerz- und Physiotherapeutinnen und -therapeuten, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter sowie Pflegekräfte, die sich zu Pain Nurses weitergebildet haben. Sie haben vertieftes Wissen über chronische Schmerzen, überwachen etwa die korrekte Einstellung von Arzneimitteln und schulen Patientinnen und Patienten und deren Angehörige im Umgang mit Schmerzen. 

Wie erleben Patientinnen und Patienten diese interdisziplinäre Vorgehensweise?

Sie fühlen sich gesehen und ernstgenommen, weil sie nicht bei jedem Behandelnden alles von vorne erzählen müssen. Sie merken, dass wir uns im Team austauschen und uns abstimmen. Das gibt Hoffnung und Vertrauen. Manche haben zunächst Angst, dass eine, womöglich weitere, Operation nötig sein könnte oder sie starke Medikamente nehmen müssen. Wenn Patientinnen und Patienten erleben, dass verschiedene Ansätze ineinandergreifen und etwa Entspannungsverfahren und Psychotherapie entlastend wirken, verstärkt das die Selbstwirksamkeit und die Zuversicht, dass ihr Schmerz positiv beeinflusst werden kann. Vor allem aber sind sie dankbar, nicht für Simulantinnen und Simulanten gehalten zu werden.

Wir sprechen von chronischen Schmerzen, wenn diese länger als drei Monate andauern.

Was sind chronische Schmerzen und wie kommt es dazu?

Wir sprechen von chronischen Schmerzen, wenn diese länger als drei Monate andauern. Verschiedene Faktoren können dazu beitragen. In der Regel gibt es zunächst eine körperliche Ursache, zum Beispiel einen Bandscheibenvorfall oder jemand bricht sich einen Arm. Im Verlauf des mehrwöchigen Heilungsprozesses lassen die Schmerzen normalerweise nach. Manchmal aber klagen Menschen noch Monate und sogar Jahre später über sehr starke Schmerzen etwa im unteren Rücken oder im Oberarm. Wenn körperliche Untersuchungen dann ohne Befund bleiben, lassen sich oft belastende Umstände im Beruf oder Privatleben entdecken. Auch psychische Faktoren wie Ängstlichkeit, Neigung zu Depressivität, aber auch Perfektionismus oder hohe Ansprüche an einen selbst und andere können zu diesem Schmerzempfinden beitragen. Wir sagen dann, der Schmerz, entsteht im Kopf‘. Manche Menschen kommen auch mit altersbedingten, körperlichen und mentalen Veränderungen nicht zurecht. Sie haben Angst vor Einsamkeit, davor, schwer zu erkranken, pflegebedürftig zu werden und ihre Unabhängigkeit zu verlieren. All das kann sich ebenfalls in chronischen Schmerzen äußern, im Rücken, aber auch in anderen Bereichen des Körpers.
 

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Es gibt also nicht immer eine körperliche Ursache?

Zumindest nicht immer in der jüngeren Vergangenheit. Wir sprechen dann von ,somatoformen‘ oder ,psychosomatischen‘ Schmerzen . Viele Menschen mit solchen chronischen Beschwerden haben aber in der frühen Kindheit traumatisierende Erfahrungen gemacht, die nie verarbeitet worden sind. Etwa Misshandlungen, emotionale Vernachlässigung oder die Eltern haben sich getrennt und sie mussten Verantwortung für jüngere Geschwister übernehmen, obwohl sie selbst noch ein Kind und überfordert damit waren. Die alten schmerzhaften Emotionen wie Hilflosigkeit, Angst, Ausgeschlossen-Sein und Sich-Nicht-Geliebt-Fühlen machen sich dann viel später als körperliche Schmerzen bemerkbar. Zumal, wenn es Menschen nicht leichtfällt, ihre Gefühle wahrzunehmen und darüber zu sprechen.
 

Und wenn es früher reale Schmerzen gab?

Auch das kommt häufiger vor, als viele denken: Empfindet heute jemand heftige Schmerzen, wenn er mit einem kumpelhaften Schlag auf die Schulter begrüßt wird, dann ist er nicht etwa ,überempfindlich‘, sondern vielleicht wurde er als Kind dort gepackt und festgehalten. Das liegt auch an unserem ,Schmerzgedächtnis‘ im Gehirn. Es entlastet Betroffene sehr, wenn wir diese neurobiologischen Fakten erklären. Ein anderer hat vielleicht Schmerzen im Gesicht, weil er als Kind zur Strafe oft geohrfeigt wurde. In der Therapie können wir uns solchen Zusammenhängen nähern und sie behutsam bewusst machen. Oder denken Sie an Kinder, die in einem Umfeld von latenter Bedrohung und Konflikten aufgewachsen sind: Als Erwachsene leben sie vielleicht immer noch in permanenter innerer Anspannung, was sich in muskulären Verspannungen offenbart.
 

Wie erfolgreich ist die stationäre multimodale Schmerztherapie?

Sie dauert in der Regel zwei Wochen und bringt vielen Patientinnen und Patienten große Linderung. Dazu trägt bei, dass wir uns dem Schmerz von verschiedenen Seiten nähern. Und dass Patientinnen und Patienten ihre Schmerzen besser verstehen und auch, warum sie auftreten. In der Psychoedukation zum Beispiel erklären wir, dass im Gehirn die Zentren für Verarbeitung von Schmerz und von negativen Gefühlen eng beieinander liegen. Wenn dann jemand dauerhaft eine Arbeit hat, bei der er sich – wieder – ausgeliefert und hilflos fühlt, kann dies alte, unverarbeitete Erfahrungen wachrufen. Der aktuelle Schmerz kommt nur scheinbar aus dem Nichts.
 

Studien sagen, jede dritte Person in Deutschland leidet öfter oder ständig an Rückenbeschwerden. Bewegen wir uns vielleicht auch einfach zu wenig?

Das als alleinige Ursache zu benennen, halte ich für eine gewagte Hypothese. Menschen mit Schmerzen bewegen sich meist weniger aus Angst vor noch mehr Schmerzen. Oder sie haben aufgrund der Schmerzen eine Depression entwickelt und ihnen fehlt der Antrieb. Vielleicht schützen sie sich auch unbewusst, weil mehr Bewegung sie wieder mit einem alten Schmerz in Kontakt bringen könnte. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir interdisziplinär arbeiten, weil jeder Mensch etwas anderes braucht, damit es ihm besser geht. Seelischer Schmerz kann sich durchaus als körperlicher Schmerz zeigen und umgekehrt, etwa auch als Depression oder Angsterkrankung. Gerade deshalb sind integrative Konzepte in der Psychosomatik und die multimodale Schmerztherapie so wichtig. Wir werden Patientinnen und Patienten nicht gerecht, wenn wir in der Medizin eine Spaltung von Körper und Seele praktizieren.

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