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Ergotherapie: Das Handeln wieder lernen

Das Leben aktiv in die Hand nehmen: Gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen fällt dies oft schwer. Ergotherapie unterstützt sie dabei, ihre Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen – unter anderem durch künstlerische Betätigung. Wie aber helfen Speckstein, Leinwand und Töpferscheibe Betroffenen, ihr Leben (wieder) selbst zu gestalten?

Indem Menschen handeln, bestimmen sie über ihr Leben. Was aber, wenn die Fähigkeit zu handeln verloren geht oder eingeschränkt ist? Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen erleben genau das. Es ist ihnen häufig kaum noch möglich, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen – von großen Entscheidungen bis hin zum Managen des Alltags. Neben Gesprächs- und medikamentöser Therapie setzt an dieser Stelle vor allem die Ergotherapie an. Ihr Ziel ist es, motorische, soziale und psychische Kompetenzen zu fördern, sodass Betroffene etwa nach einer ambulanten oder stationären Behandlung den eigenen (Arbeits-) Alltag wieder selbst gestalten können.

Die Ergotherapie ist auf Aktivität ausgerichtet – was sich schon im Namen der Methode widerspiegelt. Die Silbe „Ergo“ stammt aus dem Griechischen und bezeichnet „Werk“, „Tat“, „Arbeit“ und „Beschäftigung“. Ein älterer Begriff ist daher auch „Beschäftigungstherapie“, 1999 wurde er durch „Ergotherapie“ ersetzt. In dieser Therapieform geht es jedoch nicht darum, einfach irgendetwas zu tun. Im Allgemeinen sollen über gezielte Aktivitäten und Beschäftigungen Lösungen für die individuellen Probleme der Betroffenen gefunden werden. Ein Weg führt über die Kunst. „Gemeinsam mit Patientinnen und Patienten versuchen wir herauszufinden, welches ‚Hand-Werk' ihnen Spaß machen könnte“, erklärt Barbara Kroll. Die Beschäftigungs- und Arbeitstherapeutin leitet die Ergotherapie an der Vitos Klinik Eichberg in Eltville im hessischen Rheingau.

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Gemeinsam mit Patientinnen und Patienten versuchen wir herauszufinden, welches ‚Hand-Werk' ihnen Spaß machen könnte.

Das Gefühl bestimmt die Wahl der Technik

Anzutreffen ist sie im Haus 3 auf dem Klinikgelände, das eher einer Künstlerwerkstatt gleicht als einem Krankenhausgebäude: In hohen Regalen stehen Kisten mit Speckstein und Holz neben Farbtöpfen und Materialien zum Korbflechten und Töpfern. Patientinnen und Patienten verbringen fast täglich Zeit dort und können auswählen, was sie am meisten anspricht. „Es macht keinen Sinn, Menschen zu einer Technik zu zwingen, zu der sie nichts hinzieht“, sagt Barbara Kroll, „und die Tagesform ist entscheidend.“ Wer gestern noch zart gemalt hat, möchte heute vielleicht lieber einen Holzblock mit einer Säge bearbeiten. Vielleicht war er oder sie am Tag zuvor eher traurig, heute jedoch ärgerlich oder gar wütend: In der Ergotherapie können und sollen Gefühle einen Ausdruck finden und kanalisiert werden, die den Patientinnen und Patienten sonst vielleicht nicht bewusst werden oder für die sie möglicherweise keine Worte finden.

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Ob Depressionen, Angst- oder Zwangsstörungen, Anpassungsstörungen oder auch Suchterkrankungen: Viele psychische Leiden sind davon geprägt, dass die Betroffenen sich nicht mehr unbeschwert ausprobieren und kreativ sind. Ihnen fehlt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, oft auch der Antrieb, überhaupt etwas Neues in Angriff zu nehmen. Manchmal fürchten sie zu scheitern. Oder sie finden keinen Zugang zum Angebot von Barbara Kroll und ihrem Team. „Dann fragen wir, was sie lieber machen möchten“, erklärt die Therapeutin, „und wenn jemand sagt: Spazierengehen!, dann ermuntern wir ihn oder sie genau dazu.“ Im zweiten Anlauf findet sich dann meist doch auch ein Material, eine Technik, die diesen Menschen anspricht. 

Die Tagesform ist entscheidend.

Dinge wagen – und vielleicht auch scheitern

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Der Ergotherapie geht es auch darum, Impulse zu setzen und Menschen dazu anzuregen, etwas zu versuchen, was sie ohne Ergotherapie vermeiden würde: Einmal etwas wagen. Sich erlauben, etwas nicht zu können. Vielleicht auch ein verborgenes Talent zu entdecken, und das eigene Selbstbild („Ich kann nicht malen!“) zurechtzurücken. Manche Teilnehmende unterschätzen, andere überschätzen sich. Sie geben dann vielleicht schnell frustriert auf, fangen sofort etwas Neues an und lassen auch dies unbeendet liegen, wenn der erhoffte Erfolg ausbleibt.

All diese Erlebnisse lassen sich therapeutisch nutzen, indem einem deutlich wird: Wie schnell werfe ich an anderer Stelle in meinem Leben hin? Privat oder auch im Beruf? Werde ich sofort wütend, wenn etwas nicht klappt? Kann ich an einer Sache geduldig dranbleiben? Traue ich mir selbst etwas zu oder halte ich mich grundsätzlich für einen Versager, eine Versagerin? Und wenn mir etwas nicht auf Anhieb gelingt, ist das der Beweis? „Viele Patientinnen und Patienten profitieren in ihrem Alltag nach dem Klinikaufenthalt sehr von dem, was sie hier ausprobieren konnten“, berichtet Barbara Kroll. Mancher stellt fest, dass er auch zu Hause lieber zum Speckstein greift, um Stress abzubauen, als wieder zum Alkohol. Andere entwickeln ein neues Selbstbewusstsein. Sie sind stolz auf das, was sie geschafft und geschaffen haben. Das Lob der anderen Teilnehmenden in der Ergotherapie-Gruppe trägt dazu bei.

Eine Therapieform – viele Effekte

Ergotherapie stärkt aber nicht nur das Vertrauen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten. Wer etwa unter einer Sozialen Phobie leidet und Angst hat, sich zu blamieren, lernt in der Gruppe, sich zu zeigen und freundlicher über sich selbst zu urteilen. Wer wegen einer Depression behandelt wird, hat sich ebenfalls oft von anderen zurückgezogen und kommt nun wieder in Kontakt – mit den Ergotherapeutinnen und -therapeuten, anderen Teilnehmenden und mit sich selbst. Wer unter negativen Gedankenspiralen und Zwangsgedanken leidet, stellt nach einer Stunde Ergotherapie manchmal überrascht fest, dass beim Malen, Specksteinfeilen oder Töpfern dafür keine Zeit geblieben ist, weil man so konzentriert bei der Sache war. Und dass es einen Ausweg gibt aus dem, was vorher so unausweichlich schien. Wem der Antrieb fehlt, Entscheidungen zu treffen, merkt, dass es doch gelingt, heute bewusst „Nein“ zum Stricken und „Ja“ zur Holzarbeit zu sagen. Daran lässt sich anknüpfen: Wie sieht es mit anderen Entscheidungen im (Berufs-)Leben aus? Manchmal entdecken Patientinnen und Patienten auch eine alte Leidenschaft wieder neu oder einen frühen Traum, den sie irgendwann aufgegeben haben: Malen können. Specksteinfiguren schnitzen. Einen Elefanten aus Ton fertigen. Und sich dadurch endlich wieder selbstbewusst fühlen.

 

Hier finden Begegnungen statt, die ohne diesen Ort weniger wahrscheinlich wären.
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Ein offenes Kunstatelier für alle

Der Maler Helmut Mair betreibt seit über 25 Jahren ein offenes Kunstatelier auf dem Gelände der Vitos Klinik Eichberg. Im „Künstlerhaus6 “ ist jeder willkommen, der sich künstlerisch ausprobieren möchte: (ehemalige) Patientinnen und Patienten, aber auch Menschen aus der näheren Umgebung. „Hier finden Begegnungen statt, die ohne diesen Ort weniger wahrscheinlich wären“, sagt Mair. „Es ist daher auch ein Ort der Toleranz und der Bewegung.“ Davon profitieren nicht nur akut oder chronisch psychisch kranke Gäste seines Ateliers, die er auf Wunsch gerne anleitet. Beim Blick über den Rhein und durch die vielfältigen Kontakte ist es auch ein Ort der Einsichten und Denkanstöße.