Waldbaden und Wildnistherapie können Menschen mit psychischen Erkrankungen auf verschiedene Art helfen. Stefan Alberts, Fachkrankenpfleger für Psychiatrie an der LWL-Klinik Hemer, öffnet mit Barfußgehen und „Sauerländer Teezeremonie“ am offenen Feuer die Sinne – und auch den Blick für neue Perspektiven jenseits von Grübel-Schleifen, Entzug und Zwangsgedanken.
„Dann wollen wir mal!“ Stefan Alberts schultert morgens um 9 Uhr seinen forstgrünen Rucksack und wandert mit einem halben Dutzend Patientinnen und Patienten in Richtung Wald. Schon 150 Meter entfernt von der Pforte der LWL-Klinik Hemer des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) taucht die kleine Gruppe ein in das Dickicht aus Buchen, Birken, Ahorn und Eichen. Einfach gehen. Achtsam. Bei jedem Schritt spüren, wie die Füße aufsetzen und abrollen. Die frische Waldluft atmen. Ein Specht klopft sich in der Nähe hartnäckig durch Holz. „Hört Ihr den?“, fragt Alberts. Einige nicken.
Andere sind noch nicht so richtig auf dem Schotterweg und im Hier und Jetzt angekommen. Sie stecken mitten in einer Alkohol- oder Drogenentgiftung, was körperlich und emotional sehr fordernd ist, und schimpfen daher über dies, und klagen über das. Nach rund 20 Minuten aber ändern sich Tonlage und Gesprächsthemen spürbar. Plötzlich geht es um die Zukunft, um Pläne für die Zeit nach der Entlassung. Stefan Alberts erklärt:
Waldbaden als Therapieform
Die positive Wirkung des Waldbadens auf Körper, Seele und Geist wird schon seit den 1980er Jahren im waldreichen Japan erforscht. Dort gilt Waldbaden oder „Shinrin-Yoku“ seither als anerkannte Therapieform und wird auch zur Prävention eingesetzt. Schließlich ist erwiesen, dass die würzigen Duftstoffe der Bäume, ätherische Öle mit sogenannten Terpenen, beim Einatmen im Körper die Produktion von natürlichen Killerzellen hochfahren und so das Immunsystem stärken. Zugleich kann sich ein zu hoher Blutdruck normalisieren. Denn beim Waldbaden geht es nicht um Sport, Schwitzen oder „Strecke machen“, sondern um moderate Bewegung und eine vertiefte Atmung. Um Entspannung und die Aktivierung des für Regeneration zuständigen, parasympathischen Nervensystems. Umgekehrt bessert sich bei Menschen mit Depressionen die Antriebslosigkeit. Denn mit jedem Schritt tiefer in den Wald öffnen sich alle Sinne für die ungewohnte Umgebung. Die Augen nehmen Licht- und Schattenspiel wahr, die Nase schnuppert die harzige Luft, die Ohren lauschen dem Rascheln der Blätter und der Stille. Die Hände berühren die Borke eines Stammes.
„Natürlich kann man die Bäume auch umarmen“, sagt Stefan Alberts und setzt seinen Rucksack ab, „aber wir machen das bodenständiger.“
Die Sinne herausfordern
Mit seiner Gruppe hat er den Hauptweg inzwischen verlassen und ist ein Stück ins Unterholz gewandert. Auf einer kleinen Lichtung verbinden die Teilnehmenden jeweils einem Partner oder einer Partnerin die Augen und führen sie zu einem markanten Baum, um dessen Rinde oder tiefhängende Äste betasten zu lassen. Vorsichtig strecken die Männer und Frauen die Hände aus, fühlen, nehmen wahr. Dann werden sie zurückgeleitet und nehmen die Augenbinde ab. „Und jetzt versucht, Euren Baum wiederzuerkennen“, fordert Stefan Alberts die Runde auf. Und tatsächlich – es klappt. „Jedes Mal“, freut sich der Wildnispädagoge.
Fehlt noch der Geschmackssinn. „Dafür haben wir die Sauerländer Teezeremonie“, sagt Alberts geheimnisvoll. Dazu kocht der Guide an einer Feuerstelle Fichtennadeln in einem Kessel auf. „Die Nadeln von Fichten schmecken leicht nach Pfefferminz. Und die von Douglasien sogar nach Orange.“ Apotheke Wald.
Aussteigen aus dem Gedankenkarussell
Die Teilnehmenden staunen. Auch, dass sie mit Alberts jeden Tag in den Wald gehen, bei Wind und Wetter, sommers wie winters, für jeweils etwa 90 Minuten. Dass sie schon einen Fuchs- und einen Dachsbau gesehen haben, einmal sogar einen jungen Fuchs. Dass sie bei warmem Wetter auch barfuß laufen, mitten im Wald, über Bucheckern und Zweige, noch dazu mit verbundenen Augen und querwaldein. „Viele denken am Anfang, das geht doch gar nicht, aber wir probieren es und dann ist das überhaupt kein Problem.“ Und noch einen ungeahnten Effekt hat diese Übung: „Wer hat an etwas anderes gedacht als an das Laufen?“, fragt Stefan Alberts und die Antwort ist meist: niemand. „Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich eben nicht gegrübelt habe“, stellen die Teilnehmenden in der Regel fest. Besonders für Menschen mit einer depressiven Störung, die permanent über die Vergangenheit nachdenken oder sich Sorgen um die Zukunft machen, ist das eine wertvolle Erfahrung. Auch Menschen, deren Zwangsstörung dazu führt, dass sie immer etwas denken und tun müssen, was sie eigentlich gar nicht wollen, erleben eine wohltuende Pause von ihren Zwängen. „Bei allen Übungen im Waldbaden werden andere Nervenbahnen genutzt, als die, die Adrenalin ausschütten. Nämlich die, die für Serotonin zuständig sind“, erklärt Stefan Alberts. Serotonin wird auch das „Glückshormon“ genannt.
Schichtdienst im Wald
Der Fachkrankenpfleger mit der Leidenschaft zum Wandern bekam von der Klinikleitung die Möglichkeit, eine Ausbildung zum Wildnispädagogen zu machen, als es darum ging, die ländliche Lage der Klinik im hügeligen Sauerland positiv zu nutzen. Seit drei Jahren verrichtet Alberts seinen Schichtdienst nun draußen in der Natur, auf Wiesen und in den Wäldern rund um die Einrichtung. Heute ist er vermutlich der einzige Festangestellte in einer deutschen Klinik, mit dem Patientinnen und Patienten täglich waldbaden können. Mehrmals am Tag, auch abends und nachts, ist er mit Patientinnen und Patienten, deren therapeutische Behandlung dies erlaubt, im Wald unterwegs. Touren in der Dunkelheit können vor allem für Menschen mit einer Angsterkrankung oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung herausfordernd sein. „Das machen wir dann passend“, so Alberts. Betroffene können eine Taschenlampe benutzen oder dicht neben ihm gehen, „das gibt Sicherheit.“ So wachsen auch diese Patientinnen und Patienten ein Stückchen über ihre Ängste hinaus.
Neben dem eigentlichen Waldbaden bietet Stefan Alberts auch Wildnistherapie an: Dabei geht er mit jungen Drogenabhängigen, die per Gerichtsbeschluss eine Therapie machen müssen, in den Wald, um etwa eine Feuerstelle zu bauen.
Ebenso nimmt er Patientinnen und Patienten aus der Gerontopsychiatrie mit ihren Rollatoren oder im Rollstuhl mit in den Wald. Das Ergebnis ist immer das gleiche: eine verbesserte, optimistischere, zuversichtlichere Stimmung, was der eigentlichen Therapie auf Station zugutekommt. Bis zum Beginn der Coronapandemie kamen zu den abendlichen Wanderungen auch einige ehemalige Patientinnen und Patienten. „Ich würde mich freuen, wenn das bald wieder möglich wäre“, sagt Stefan Alberts. Denn auch die Ehemaligen trugen zur verbesserten Stimmung bei. Sie konnten authentisch davon berichten, wie gut es bei ihnen nach der Zeit in der Klinik lief.