Leichte Sprache

„Pausen sind die beste Therapie“

Wer von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen ist, nimmt die Welt anders wahr als „neurotypische“ Menschen. Dr. Dagmar Evers, Psychologin an der LVR-Klinik Viersen, setzt in der Behandlung autistischer Mädchen und Frauen deshalb auf Erklären. Und auf Strategien, um starke Reize immer besser ausgleichen und selbstbestimmt am Leben teilhaben zu können.

 

Frau Dr. Evers, das Gehirn autistischer Menschen tickt anders, wie Sie sagen. Was bedeutet das für die Therapie von Mädchen und Frauen, mit denen Sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie in eigener Praxis arbeiten?

Ich muss verstehen, dass ihr Gehirn anders wahrnimmt, verarbeitet, speichert, um diese Menschen unterstützen zu können. Psychoedukation ist ganz wichtig. Sie haben sehr viel Bedarf, erklärt zu bekommen: Wie ist das bei Ihnen in der neurotypischen Welt?

 

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Pause-Wanne
Foto: ©Pexels

Wie meinen Sie das?

Sie wundern sich etwa, dass ich mich nach einer Stunde Gespräch nicht erst sammeln muss: ,Ach echt, Frau Evers, Sie müssen jetzt nicht eine Stunde Pause machen, Sie müssen es nicht anderthalb Stunden vorbereiten, und Sie gehen nicht in Panik zur Bushaltestelle, weil Sie nicht wissen, was im Bus auf Sie zukommt?‘ Diese Frauen und Mädchen haben ein großes Bedürfnis nach Sicherheit und Verlässlichkeit. Weil das vorausschauende Denken eingeschränkt ist, wird alles, was nicht gleich bleibt, als beunruhigend, belastend und anstrengend erlebt. Deshalb gilt für die Therapie: Erklären! Erklären! Erklären! Als Therapeutinnen und Therapeuten müssen wir diesen Frauen und Mädchen die Chance geben zu lernen, wer und was sie sind, wie sich ihr Autismus äußert und welche Strategien ihnen helfen können.

 

 

Was ist dabei am Wichtigsten?

Wir brauchen alle ein Selbstbild, wir brauchen alle Kontrolle über das, was wir tun, und das fehlt autistischen Mädchen und Frauen. Die hohe Reizsensitivität und die Verarbeitung sind die wesentlichen Faktoren für Belastungen im echten Leben und das müssen sie verstehen lernen. Nur so haben sie eine Chance, sich kontrolliert diesen Situationen auszusetzen.

 

Können Sie ein Beispiel geben?

Ich hatte eine Sechzehnjährige, die auf gar keinen Fall Busfahren konnte. Das hat sie sehr belastet, weil sie es gerne wollte. Also erklärte ich ihr, warum ihr Busfahren so schwerfällt: Sie war sehr geräusch- und geruchsempfindsam, hatte Angst vor wechselnden Menschen, ,Vielleicht spricht mich jemand an und ich weiß  nicht, was ich antworten soll, vielleicht will der Busfahrer etwas von mir und womöglich mache ich dann etwas falsch…‘ All das baut viel Angst auf, also fuhr sie niemals Bus. Als sie verstanden hatte, woran es lag und sie nicht ,total bescheuert‘ ist, besprachen wir Hilfsmaßnahmen. 

 

Was empfahlen Sie ihr?

Ich sagte: ,Immer an der Bushaltestelle setzt Du Deine Kopfhörer auf und machst eine schöne Musik an, die Dich beruhigt. Ich gebe Dir das OK, Du musst gar keinem antworten. Im Zweifelsfall denken die Leute, Du bist unfreundlich. Egal. Nimm Dir einen Schal mit, auf den Du Dein Lieblingsparfüm sprühst und den Du über die Nase ziehen kannst. Dann kriegst Du die anderen Gerüche nicht so mit. Busfahren wird für Dich immer schwierig sein. Ich kann Dir nur Dinge mitgeben, die es Dir erleichtern, dass Du es schaffen kannst. Und Du weißt: Nach 15 Minuten ist es vorbei.‘ Gleich am nächsten Tag ist sie Bus gefahren. Die Mutter hat mich angerufen und war vollkommen verblüfft. Das geht nicht immer so schön, aber es geht viel. Manchmal sind es kleine Schalter, die wir als Neurotypen nicht verstehen, die man ganz schnell umlegen und verändern kann, wenn man genau hinhört.

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Freunde
Foto: ©Pexels 

Ist ein selbstbestimmtes, stressfreies Leben also auch mit einer Autismus-Spektrum-Störung möglich?

Auf jeden Fall. Ich habe etwa eine Patientin, die als Illustratorin arbeitet. Sie hat sich in ihrem Leben viel durchgekämpft, in Unternehmen, in Großraumbüros und hat festgestellt, das ist nichts für sie. Inzwischen arbeitet sie viel von zu Hause, fährt aber auch gezielt auf Messen, das bekommt sie hin. Zuhause hat sie ihre Ruhe, ihre Struktur, das gibt ihr die nötige Sicherheit und Stabilität. Autismus-Spektrum bedeutet nicht gleich, dass man nicht zurechtkommt, aber im Regelfall, dass es sehr viel anstrengender und schwieriger ist.

 

Je nach Beschwerdebild fällt es diesen Menschen schwer, den eigenen Tag zu strukturieren. Was hilft ihnen dabei?

Wenn wir morgens aufstehen, haben wir innerlich einen Plan und wissen, wann wir wo sein müssen. Schwer vorstellbar für neurotypische Menschen, aber genau das bildet das Gehirn bei einem autistischen Menschen nicht ab. Man steht auf und weiß nie so genau, was passiert. Und wozu führt das? Zu großen Ängsten. Angst ist der zentrale Faktor bei Autismus. Viele profitieren deshalb etwa von Tagesplänen, auf die sie morgens schauen können und so mehr Selbstständigkeit erlangen. So gibt es auch die intelligenten Abiturientinnen, die es aber nach wie vor brauchen, dass die Mutter ihnen sagt, wie sie sich der Reihenfolge nach anziehen oder das Startsignal zum Frühstücken oder Zähneputzen gibt. Über die Pläne kann man mehr Selbstständigkeit schaffen. Es hilft hingegen nicht immer, wenn andere von außen fordern, die Mutter müsse jetzt aber mal loslassen. Im Gegenteil: Diese Mütter haben oft ein gutes Bauchgefühl und wissen: Es klappt nur auf diese Weise. 

 

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Planer
Foto: ©Pexels

Wie können Eltern schon in der Erziehung dazu beitragen, dass sich autistische Mädchen gar nicht erst ein camouflierendes Verhalten aneignen müssen?

Schaffen Sie Entlastung und Pausen, das ist die beste Therapie. Zwingen Sie sie nicht, nachmittags mit anderen Kindern zu spielen. In Kindergarten oder Schule haben sie bereits genug soziale Anforderung. Die meisten autistischen Kinder brauchen diesen Rückzug und finden es schön, wenn sie in ihrem Zimmer ihren Interessen nachgehen und zur Ruhe kommen können, um alles zu verarbeiten. Ihnen dies zuzugestehen ist extrem hilfreich. Und ,hören‘ Sie auf die Kinder und Jugendlichen und unterstützen Sie sie in ihrem Umgang mit Reizen und Anforderungen.

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