Kinofilme wie „Rainman“ oder „Wir Wochenendrebellen“ machen eine breitere Öffentlichkeit mit der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) vertraut. Wie viel von den Handlungen Fiktion oder Wahrheit ist, erklärt Prof. Leonhard Schilbach in dieser etwas anderen „Filmkritik“. Der Psychiater und Neurowissenschaftler ist Chefarzt und stellvertretender ärztlicher Direktor am LVR-Klinikum Düsseldorf und leitet auch die dortige „Ambulanz für Störungen der sozialen Interaktion und Autismus im Erwachsenenalter“.
Herr Prof. Schilbach, wie hat Ihnen als ASS-Experte der Film ,Wir Wochenendrebellen‘ gefallen, der 2023 in die Kinos kam?
Wichtiger als meine persönliche Meinung ist doch, ob Vater und Sohn zufrieden waren, deren reale Geschichte die Grundlage für den Film war. Soweit ich weiß, sind sie das. Generell ist eine mediale Präsenz der Autismus-Spektrum-Störung wichtig. Sie trägt zu einem größeren Bewusstsein dafür bei, dass es so etwas wie Autismus überhaupt gibt und wie sich das äußern kann.
‚Rainman‘ war der erste große Kinofilm zu diesem Thema. Dustin Hoffman verkörperte darin 1988 den Autisten und Savant Raymond Babbitt. Wie authentisch war das?
Die Darstellung war schauspielerisch sehr gelungen, allerdings ist die Figur des Raymond Babbitt nicht repräsentativ für das Autismus-Spektrum. Savants, also Menschen mit außergewöhnlichen Begabungen, sind sehr selten und es gibt keinen klaren Nachweis, dass dies immer mit Autismus verbunden ist. Außerdem vernachlässigt der Film, dass es viele Menschen mit Autismus gibt, die nicht von intellektuellen Einschränkungen betroffen sind und trotzdem große Schwierigkeiten im Leben haben.
Und wie ist es mit Jason im Film ,Wir Wochenendrebellen‘? Sein Vater sucht mit seinem autistischen Sohn 56 Fußballvereine auf, damit er seinen Lieblingsverein finden kann.
Autisten sind sehr analytisch und entscheiden sich für oder gegen etwas aufgrund von Fakten. Da ist es doch logisch, dass die Vereine systematisch abgeklappert werden. Als im Stadion in Gelsenkirchen dann alle aufstehen und singen, bleibt Jason sitzen, mit der Begründung: ,Ich bin kein Schalker, ich steh nicht auf!‘ Egal, was die anderen denken. Hier sieht man, dass Autismus auch mit Stärken einhergeht – nämlich der Fähigkeit, inhaltliche Überzeugungen unabhängig von sozialem Druck durchzuhalten. Andererseits kann dies aber auch Nachteile bedeuten, weil diese Art von unangepasstem Verhalten in der Gesellschaft häufig sanktioniert wird.
Jason nennt seine Religionslehrerin vor versammelter Klasse eine ,Verschwörungstheoretikerin‘. Das würde sich nicht jeder trauen.
Menschen mit Autismus stehen zu ihrer Meinung, wenn sie diese inhaltlich begründen können, und berücksichtigen weniger stark den sozialen Kontext und die ungeschriebenen Regeln des Zusammenlebens. Hierfür gibt es viele Beispiele, wie etwa das autistische Kind, das den Mathelehrer direkt und ohne zu zögern auf einen Rechenfehler hinweist. Für einen Autisten spielen die sozialen Implikationen einer Aussage eine weniger große Rolle. Ihm oder ihr geht es darum, was sachlich richtig oder falsch ist. Menschen mit Autismus wollen dabei andere aber nicht vorführen. Es ist auch nicht persönlich gemeint, es geht um die Sache.
Der Vater macht mit seinem Sohn einen Deal: Er fährt mit ihm zu allen Fußballvereinen, wenn Jason sich in der Schule nicht mehr so schnell provozieren lässt und seine Lehrerin nicht mehr ,Verschwörungstheoretikerin‘ nennt. Kann so etwas funktionieren?
Der Film basiert ja auf einer wahren Geschichte, also hat es wohl funktioniert. Es ist auch so, dass Autisten und Autistinnen, die über gute kognitive Fähigkeiten verfügen, durchaus in der Lage sind, ihr Verhalten zu steuern und zu versuchen, auf die Einhaltung von sozialen Konventionen zu achten. Dies erfordert aber oftmals eine viel größere Anstrengung als bei Personen ohne Autismus. Ich wäre mir aber ziemlich sicher, dass Jason inhaltlich bei seiner Meinung geblieben ist.
Im Film wirkt es so, als würde Jason auf verschiedene Reize zuhause nicht mehr so empfindlich reagieren, nachdem er in den Fußballstadien maximalem Lärm, Gedränge und Geschubse ausgesetzt war. Kann sich ein Autist, eine Autistin auf eine solche Art ,desensibilisieren‘?
Das ist individuell sehr unterschiedlich und kann in einem gewissen Umfang funktionieren. Eine vollständige Desensibilisierung ist aber unwahrscheinlich, weil Menschen mit Autismus über eine feinere Wahrnehmung für Sinnesreize verfügen. Wir wissen aber, dass die kognitive Verhaltenstherapie eine gut geeignete Form der Psychotherapie bei Autismus ist. Hierbei wird logisch und analytisch vorgegangen: Es werden Situationen analysiert, Zusammenhänge überprüft und man schaut, wie in welcher Situation aus welchen Gedanken und Gefühlen welches Verhalten entsteht. Da können Menschen mit Autismus ihre Fähigkeit einbringen, Dinge logisch zu verstehen und sich überlegen: ,Was kann ich tun? Wie kann ich selbst Einfluss darauf nehmen, dass mich bestimmte Dinge nicht mehr so stören und meine Lebensqualität sich verbessert?‘ Wir machen das auch in unserer Düsseldorfer Autismus-Therapiegruppe für Erwachsene, an der nur Menschen mit Autismus teilnehmen dürfen. In Studien haben wir nachgewiesen, dass die Teilnehmenden die Gruppe positiv bewerten. Sie fühlen sich durch das enthaltene Interaktionstraining besser gewappnet für soziale Kontakte, sodass sich die soziale Motivation der Menschen mit Autismus verbessert.
Auch bei Jason könnte man manchmal den Eindruck gewinnen, dass ihm an sozialem Austausch gar nicht so sehr gelegen ist. Täuscht das?
Die meisten Menschen mit Autismus, die ich in 15 Jahren kennengelernt habe, sind in einem gewissen Umfang durchaus an sozialen Kontakten interessiert. Allerdings entstehen Autismus-bedingt viele Missverständnisse, sodass viele negative Erfahrungen gesammelt werden. Diese können zu sozialem Rückzug oder auch Desinteresse beitragen. Etwa jede zweite Person, die zu uns in die Ambulanz kommt und eine Spätdiagnose Autismus erhält, leidet zusätzlich an einer klinisch manifesten Depression. Das kommt daher, dass Autistinnen und Autisten durchaus auf der Suche nach Kontakt sind, nach einer Partnerschaft, nach beruflicher Integration, was aber häufig nicht gelingt, weil sie als anders wahrgenommen werden. Hieran sieht man, dass viele Menschen mit Autismus besonderem psychischen Leid ausgesetzt sind, was häufig erst dann gut behandelt werden kann, wenn auch die Autismus-Diagnose gesichert wurde.
Als Jason die Autismus-Diagnose bekommt, spricht die Ärztin von einer Behinderung. Ist das so? Manche Personen mit ASS sagen heute von sich, dass sie nicht krank seien, sondern ,neurodivergent‘.
Autismus stellt eine Entwicklungsstörung dar und ist aufgrund der damit einhergehenden Beeinträchtigungen als seelische Behinderung anerkannt. Das ist wichtig, damit die damit verbundenen Nachteile ausgeglichen werden können und soziale Teilhabe gelingen kann. Dies kann im Rahmen einer Schulbegleitung geschehen oder später im Leben durch so genannte Nachteilsausgleiche im Studium oder im Beruf. Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig, dass wir es als Gesellschaft schaffen, auch die Talente und Fähigkeiten von Menschen mit Autismus zu nutzen, damit die Personen ihre Fähigkeiten einbringen können.
Was sollte ein nächster Film über Autismus zeigen?
Es wäre schön, wenn darin thematisiert würde, wie Kommunikation gelingen kann – zwischen Personen mit und ohne Autismus. In Partnerschaften etwa: Einer ist Autist, der andere nicht, wie bekommen diese Menschen das hin? Ein solcher Film würde erfahrbar machen, wie der Mensch sich darauf einstellen kann, dass andere anders sind als er oder sie selbst. Wie entstehen dadurch Konflikte, wie lassen sie sich lösen? Wo sind Gemeinsamkeiten zwischen Menschen hilfreich für die Kommunikation, wie können wir aber auch Unterschiede in der Kommunikation auffangen und überwinden, damit wir uns alle verständigen können?