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„Eine Diät ist oft der Einstieg in eine Essstörung“

Magersucht, Bulimie, Binge-Eating-Störung: Nach der Corona-Pandemie sind noch mehr Jugendliche von einer Essstörung betroffen als ohnehin schon. Warum Eltern frühzeitig medizinischen Rat einholen sollten, erläutert Dr. Freia Hahn, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LVR-Klinik Viersen. Diese beteiligt sich derzeit auch an einem vielversprechenden neuen Behandlungsansatz.

 

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Hahn
Foto: © Dr. Freia Hahn

Frau Dr. Hahn, in wenigen Worten: Wie äußern sich Essstörungen?

Bei Störungen des Essverhaltens unterscheiden wir vor allem zwischen Magersucht, Bulimie und einer Binge-Eating-Störung. Der Magersucht liegt eine selbst herbeigeführte Gewichtsabnahme zugrunde, verbunden mit einer deutlichen Körperschemastörung: Selbst mit Untergewicht halten die Betroffenen sich für zu dick. Bulimie ist gekennzeichnet durch Essattacken, gefolgt von gegenregulierenden Maßnahmen, in der Regel Erbrechen. Die Erkrankung ist oft lange unentdeckt, da das Gewicht zwar schwankt, aber weitestgehend normal bleibt und die Betroffenen aus Scham keine Hilfe in Anspruch nehmen. Bei der Binge-Eating-Störung kommt es ,nur‘ zu Essattacken, meist mit hochkalorischen Lebensmitteln und dem Gefühl des Kontrollverlustes über das Essen. Diese Patientinnen und Patienten nehmen deutlich an Gewicht zu. Mit allen Störungen können körperliche und seelische Begleiterkrankungen verbunden sein wie Depressionen, Angsterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen.

 

 

Wie verbreitet sind diese verschiedenen Ausprägungen der Essstörung?

Von 1.000 Mädchen und Frauen entwickeln im Lauf ihres Lebens 14 eine Magersucht, 19 eine Bulimie und 28 eine Binge-Eating-Störung. Sportlerinnen und Sportler gehören zu den Hochrisikogruppen für eine Magersucht oder eine Bulimie. Eine partielle Essstörung, also nicht das Vollbild und nicht auf Dauer, tritt bei 15 Prozent aller Jugendlichen auf – das ist wirklich viel. Jungen sind insgesamt deutlich weniger betroffen. Man erklärt sich das unter anderem mit biologischen, auch hormonellen Unterschieden sowie mit gesellschaftlichen Rollen und unterschiedlichen Schönheitsidealen, die Mädchen und Jungen zugeschrieben werden. Magersucht wird meist im Alter von 14 bis 17 Jahren das erste Mal diagnostiziert, eine Bulimie zwischen 18 und 20. Aber auch Kinder ab 10 Jahren sind zunehmend betroffen.

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Frau, Stuhl, Bad
Foto: © Pexels

 

In und nach der Zeit der Corona-Pandemie sind die Zahlen offenbar deutlich gestiegen…

Das ist sehr deutlich und schon dramatisch. Wir hatten zwischenzeitlich 40 Prozent mehr stationäre Aufnahmen bei Jugendlichen mit Essstörungen und 20 Prozent mehr bei Kindern – und es hält immer noch an. Die Schwere hat ebenfalls deutlich zugenommen. Die Gründe dafür sind mannigfaltig und immer noch nicht ganz verstanden.

 

 

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„Kinder erleben die Pandemie als ewigen Zustand“

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Wie beginnt denn eine Magersucht oder eine Bulimie?

Die Ursachen sind vielfältig, aber oft ist der Einstieg tatsächlich eine Diät. Eine Studie hat gezeigt: Von 15-jährigen Mädchen, die eine Diät gemacht haben, entwickelten hinterher 15 Prozent eine Essstörung. Bei Teilnehmerinnen ohne Diät waren es nur drei Prozent. Auch eine zuvor bestehende soziale Unsicherheit oder Angsterkrankung können zu einer Essstörung beitragen. Genetische und biologische Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle. Die Essstörung bringt zum Ausdruck, dass anstehende Entwicklungsaufgaben nicht bewältigt werden können: In der Pubertät verändern sich Körper und Psyche, die Themen Sexualität und Beziehung kommen hinzu, später der Übergang von der Schule in die Ausbildung und in ein eigenständiges, erwachsenes Leben. Das kann überfordern.

 

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Waage
Foto: © Pexels

Wie merken Eltern, dass ihr Kind an einer Essstörung leidet?

Anzeichen können sein, dass immer mehr Mahlzeiten ausgelassen werden und Jugendliche, selbst wenn sie nicht abnehmen, sich zunehmend mit Kalorien und Gewichtskontrolle beschäftigen. Ebenso sollten Eltern hellhörig werden, wenn sich ihr Kind immer mehr zurückzieht und Interessen vernachlässigt, gleichzeitig aber einen übermäßigen Ehrgeiz und Perfektionismus entwickelt, auch in Bezug auf die Schule.

 

Warum ist es wichtig, lieber früher als später ärztlichen Rat zu suchen?

Essstörungen sind eine schwere Erkrankung. Je früher wir ansetzen, umso geringer ist die Gefahr einer Chronifizierung und umso eher lässt sich die Behandlungszeit verkürzen. Denn in der Regel beträgt die Krankheitsphase vom ersten Symptom bis zur absoluten Genesung 10 bis 15 Jahre. Man sagt, 50 Prozent der Betroffenen genesen, wobei davon fast jede Dritte, jeder Dritte einen Rückfall erleidet. 25 Prozent erkranken chronisch, 25 Prozent zeigen weiterhin Reste der Symptome. Hinzu kommt, dass die Sterblichkeit über die Lebensspanne bei zehn Prozent liegt, meist aufgrund der direkten Folgen der Mangelernährung. Aber auch die Zahl der Suizide ist hoch.

 

Was lernen die Patientinnen und Patienten in der Klinik?

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Brot
Foto: © Pexels

Sie sind meist viele Wochen in der Klinik, je nachdem, wieviel sie zunächst zunehmen müssen. Ziel ist, wieder ein gesundes Körpergewicht und ein normales und ausgewogenes Essverhalten aufzubauen und dem Alltag anzupassen. Dabei werden auch die Nahrungsmittel in den Essensplan integriert – Butter, Saucen, Schokolade -, die sich die Betroffenen lange verboten haben. Vor denen sie Angst haben, weil sie kalorienreicher sind oder bei einer Bulimie Essattacken ausgelöst haben. Gerade Magersüchtige müssen wieder lernen zu essen, auch wenn sie weiterhin das Gefühl haben ‚zu dick zu sein‘ – die Körperschemastörung hält sich besonders hartnäckig. Schließlich geht es darum, nicht jeden Tag das Gewicht zu kontrollieren und auch anderen Themen wieder Raum im Alltag zu geben. Zur Behandlung gehört es zudem, sich mit den eigenen Auslösern und Glaubenssätzen, aber auch den Folgen der Essstörung auseinanderzusetzen und neue Wege im Umgang damit zu lernen. Auch Mutter und Vater müssen fit gemacht werden. Die Essstörungen haben einen wesentlichen Einfluss auf das Familienleben, und die Eltern sind wichtige Ko-Therapeuten im Behandlungsprozess. Daher gehören regelmäßige Familiengespräche mit zur Behandlung.


Und nach der Entlassung, wie lässt sich das Erlernte bewahren?

Wir bemühen uns, die Betroffenen zu Expertinnen und Experten ihrer Erkrankung zu machen, in der stationären Behandlung und danach in der ambulanten Phase. Bei Magersüchtigen geht es darum, dass sie ihr Gewicht auch unter Alltagsbedingungen halten und ihr Essverhalten nicht wieder in die kranken Muster rutschen lassen. Bulimikerinnen müssen auf mögliche Auslöser achten und was ihnen Stress bereitet: Wenn sie sich abgelehnt fühlen? Bei Problemen mit der besten Freundin? Bei Leistungsdruck? In diesen Situationen könnten sie, um ihre Emotionen in den Griff zu bekommen, Sport machen, eine Freundin treffen, Musik hören. Droht eine Essattacke, wenn sie allein vor den Hausausgaben sitzen? Dann könnten sich die Betroffenen zu einer Lerngruppe verabreden oder vielleicht woanders hingehen, um die Schularbeiten zu erledigen. Das muss individuell gestaltet werden. Schon in der Zeit in der Klinik binden wir das familiäre Umfeld aktiv mit ein: Familienessen müssen geübt werden. Dennoch gilt es für Eltern, nach der Therapie ihr Kind wieder selbstständig sein zu lassen, ihm zu vertrauen, das Essen nicht zu kontrollieren. Auch das ist ein Lernprozess.

 

Die Rückfallquoten sind hoch. Was hilft den ehemaligen Patientinnen und Patienten langfristig?

Sie wissen, dass sie eine Empfindsamkeit, eine Vulnerabilität haben, auf Belastungen mit einer Essstörung zu reagieren. Daher sollten sie in anstrengenden Phasen, während einer Trennung oder in Prüfungszeiten, Frühwarnzeichen ernstnehmen. Etwa, wenn Essen wieder ein schwieriges Thema wird. Wenn sie merken, dass die erlernten Strategien nicht greifen, sollten sie sich frühzeitig Rat und Hilfe holen. Das gehört zur Selbstfürsorge. Manchmal reichen dann schon wenige Therapiestunden, um sich wieder zu stabilisieren. Zudem beteiligt sich die LVR-Klinik Viersen derzeit an einer Multi-Center-Studie zum Home-Treatment bei Magersucht, ,HoT‘ genannt . Ziel ist es, die Betroffenen und ihre Eltern noch intensiver und individueller in ihrem Alltag zu unterstützen und pathologische Gewohnheiten frühzeitig zu unterbrechen. Eine Pilotstudie des Uniklinikums Aachen hat gezeigt, dass sich die Behandlungszeit in der Klinik auf diese Weise deutlich verkürzen ließ, die Rückfallquoten deutlich niedriger waren und die Gewichtsnormalisierung auf einem besseren Niveau blieb. Ein großer Vorteil ist, dass die Behandlung durch das multiprofessionelle Team zu großen Teilen zu Hause stattfindet. Da kann etwa die Ernährungsberaterin mal mit in den Kühlschrank schauen: Stehen da nur Diätprodukte? Oder eine Therapeutin geht mit, wenn eine neue Jeans gekauft werden soll, weil die alte – hoffentlich – zu klein geworden ist. Ist die jetzige Studie ähnlich erfolgreich, hoffen wir, damit eine neue Behandlungsform etablieren zu können.