Studien und eigene Erfahrungen zeigen, dass Kinder und Jugendliche durch die Corona-Pandemie psychisch stark belastet sind. Dr. Annette Duve, Klinikdirektorin der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Riedstadt, spricht im Interview über Belastungsfaktoren, Alarmsignale und neue hybride Behandlungsmethoden.
Curamenta: Wir sind im dritten Jahr der Corona-Pandemie. Wie wirkt sie sich auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus?
Dr. Annette Duve: Die Alltagsstruktur, die das Leben von Kindern und Jugendlichen normalerweise bestimmt, wird ein Stück weit aus der Bahn geworfen. Gewohnte Bezüge wie Schule, Freunde, Familie, das Vertrauen in Gesundheit und grundsätzlich in Systeme gehen ihnen verloren. Zugleich werden Faktoren geschwächt, die normalerweise die Psyche schützen: Freunde treffen, Erfolgserlebnisse haben, sich sportlich austoben oder Hobbys nachgehen. All dies führt zu einem subjektiven Belastungsgefühl, das sich je nach Typ ganz unterschiedlich auswirken kann. Manche Kinder schlagen sich gut, werden selbstständiger. Andere, die vielleicht grundsätzlich anfälliger sind, spüren die Belastung stärker. Studien von 2021 zeigen, wie merkbar sich die Situation auswirkt: Etwa 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben psychische Probleme. Glücklicherweise heißt das aber nicht, dass sie alle schwer psychisch krank sind.
Welche Faktoren führen zu psychischen Erkrankungen, welche schützen davor?
Hier spielen viele Faktoren eine Rolle. Die genetische Veranlagung macht Menschen robuster oder anfälliger. Manche gehen forsch durchs Leben, andere sind eher zurückhaltend. Auch die Wahrscheinlichkeit, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, kann genetisch angelegt sein. Eine große Rolle spielt, wie das Kind aufwächst, ob es gefördert, angenommen und emotional gestützt wird, ob es in stabilen Bindungen lebt. Belastend auswirken können sich unter anderem sozialer Status, Trennung der Eltern im Streit, alleinerziehende Eltern, psychische Erkrankungen der Eltern, Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung. Allerdings ist nicht ein Faktor allein maßgeblich, sondern die Summe. Es hängt also davon ab, wie die Grundanlage des Kindes ist und auf welche Belastungsfaktoren es trifft – oder eben nicht.
Welche Störungen bzw. Erkrankungen beobachten Sie in der Pandemie häufiger als unter normalen Umständen?
Ängste und Depressionen haben stark zugenommen. Die Pandemie macht Angst vor der Zukunft und davor, selbst zu erkranken. Angst macht beispielsweise, wenn die Kinder eine Zeit lang als Pandemietreiber und Risikofaktoren für die Erwachsenen galten und sie nicht besuchen durften. Die Ausprägungen der üblichen Krankheitsbilder wie Essstörungen, Psychosen oder Zwangserkrankungen sind insgesamt stärker geworden. Wir sehen auch eine deutliche Zunahme von Suizidgedanken und -absichten bei sehr belasteten jungen Menschen. Besonders ihnen fehlt der Austausch unter ihresgleichen. Den brauchen sie, um ihr Selbstwertgefühl zu entwickeln und um festzustellen, dass sie mit ihren Problemen und Zweifeln nicht allein sind. Auch fehlt die zeitliche Einordnung. Kinder und Jugendliche leben im Hier und Jetzt. Die Pandemie erleben sie als ewigen Zustand.
Was sind Anzeichen oder Alarmsignale für eine psychische Erkrankung?
Jede drastische Verhaltensänderung bei einem Kind ist beobachtungswürdig. Ziehen sich eigentlich fröhliche Kinder stark zurück, werden gelassene Kinder plötzlich aggressiv, lehnen sie Gespräche zu bestimmten Themen ab oder zeigen in der Schule einen unerklärlichen Leistungsabfall, dann sind das Alarmsignale. Natürlich gehen Kinder auch durch Phasen. Lassen sich die Symptome nicht erklären, dann sollten Eltern reagieren – zunächst mit einem Gespräch, um zu ergründen, was die Kinder umtreibt. Manche Erwachsene scheuen sich davor, mit Kindern über Geschehnisse wie die Pandemie oder auch Krieg zu sprechen. Das ist falsch. Kinder bekommen viel davon mit. Die Aufgabe der Erwachsenen ist es, das für die Kinder zu übersetzen und einzuordnen. Sie neigen auch dazu, einzelne Aspekte zu überhöhen und auf sich zu beziehen, wie beispielsweise, dass sie in der Pandemie eine Gefahr für ihre Großeltern darstellen. Hier sollten Erwachsene relativieren, und das ist nur im Gespräch möglich.
Wie haben Sie darauf reagiert? Wie läuft die Behandlung der Kinder und Jugendlichen unter Pandemie-Bedingungen ab?
Dank unseres strengen Hygienekonzepts hat sich Corona nie auf die Stationen ausgebreitet. Anfangs hatten wir wegen der Isolation der Neuaufnahmen eine etwas geringere Belegung. Mittlerweile können wir sie aber mit unserem eigenen PCR-Testgerät testen und bei negativem Test normal unterbringen. Unabhängig von der Pandemie haben wir ein hohes Notfallaufkommen, dem wir mit einer kurzen Krisenbehandlung und ambulanter Nachbehandlung begegnen. Da wir eine Modellklinik sind, können wir sehr flexibel vorgehen und uns an den Bedarfen der Kinder und Jugendlichen orientieren. Nach intensiver ambulanter Unterstützung bieten wir jetzt auch Behandlungen zuhause und können dadurch die stationäre Behandlung deutlich verkürzen. Und wir bieten virtuelle Behandlungsmethoden an, also Telefon- oder Videosprechstunde oder Hybridmodelle. Hier kommen die Kinder ein oder zwei Mal pro Woche in die Klinik und werden ansonsten per Telefon-Coaching oder per Video betreut.
Würden Sie diese Modelle als vielversprechend für die Zukunft ansehen?
Für die starke Flexibilisierung der Behandlung und für die hybriden Modelle aus virtuellen und ambulanten Kontakten gilt das auf jeden Fall. Kinder und Jugendliche sind sehr technikaffin und haben das gut angenommen. Es spart die weiten Wege. Denn wir sind für fünf Landkreise zuständig. Kinder und Jugendliche können in ihrem Alltag verbleiben, weiterhin die Schule und den Sportverein besuchen und trotzdem intensiv an der Behandlung teilnehmen. Wichtig ist aber, einmal die Beziehung gut herzustellen. Deshalb finden Erstkontakt und Behandlungsbeginn immer live und vor Ort statt.
Wo finden Eltern von psychisch erkrankten Kindern Hilfe?
Eine erste Anlaufstelle bietet das Forum für den Austausch mit anderen Angehörigen sowie mit Expertinnen und Experten.