Nicht krank, sondern anders: „neurodivergent“. In ihrem Bestseller „Kirmes im Kopf“ beschreibt die Autorin und Journalistin Angelina Boerger, wie die Diagnose „ADHS im Erwachsenenalter“ ihr Leben zum Positiven verändert hat. Und womit sie sich arrangiert. Ein Protokoll.
„Du quatschst zu viel!“
„Wo sind schon wieder Deine Sachen?“
„Wenn das so weiter geht, wirst Du nur einen Hauptschulabschluss schaffen!“
Mir wurde schon früh gesagt, vor allem in der Schule, dass ich anders bin. Zu unkonzentriert, zu verträumt und wenn es darum ging, eine Lösung zu präsentieren, dann fand ich auch eine. Aber auf eine Art und Weise, die so nicht angedacht war – und trotzdem funktioniert hat. In meiner Jugend war ich beliebt, aber weil ich immer jede Eventualität abgewogen und mich in Gedankenstrudeln verloren habe, nannten mich meine Freunde „Dino“. Sie fanden, ich sei zu erwachsen, zu „alt“, wie ein Dinosaurier eben. Gleichzeitig hatte und habe ich eine schnelle Auffassungsgabe. Mir fiel immer eine gute Ausrede ein, wenn ich mal wieder etwas liegengelassen hatte, und ich konnte mich, auch wenn das Heft zuhause lag, im Unterricht daran erinnern, was ich aufgeschrieben hatte. So schaffte ich – aller Unkenrufe zum Trotz – erst das Abitur, dann auch das Studium: Politik, Medienwissenschaften, Soziologie. Desorganisiert, abgelenkt, aber dann doch auf den Punkt. Das zieht sich durch mein ganzes Leben: ein Durcheinander, das aber oft hinhaut.
Noch aus dem Hörsaal bewarb ich mich beim Chefredakteur einer Lokalzeitung, der uns seinen Beruf als Journalist erläuterte. Meine Initiative fanden er und sein Team großartig, die sechs Flüchtigkeitsfehler in meinem Anschreiben weniger. Trotzdem bekam ich erst ein Praktikum, dann einen Job. Doch immer blieb das Gefühl, ich schustere mir etwas zusammen – und irgendwann fällt das auf. „Imposter-Syndrom“ heißt diese Angst, für einen Hochstapler, eine Hochstaplerin gehalten zu werden. Zwei Drittel aller Menschen werden einmal im Leben davon befallen, ich habe sie immer. Warum das so ist, weiß ich seit 2019: Mit 29 Jahren erhielt ich die Diagnose „ADHS im Erwachsenenalter “.
Alleinerziehende Mütter mit fünf Kindern schreiben mir, junge Paare, 72-jährige Frauen, die sich extra einen Instagram-Account anlegen. Männer vertrauen sich mir an und fragen ganz vorsichtig: „Ist hier auch Platz für uns?“ Das ist so wundervoll, das gibt mir so viel zurück. Durch dieses Miteinander weiß ich, ich werde wahrgenommen als Sprachrohr für ADHS im Erwachsenenalter in Deutschland, und dass man mir diese Rolle zutraut. Der Bedarf ist offenbar riesig. Mein Anfang 2023 erschienenes Buch „Kirmes im Kopf“ ist seit Wochen in den Bestsellerlisten. Dabei wollte ich damit und mit meinem Instagramkanal ursprünglich vor allem junge Frauen ansprechen, also meine Generation, die bei der Diagnostik so oft übersehen wird.
Denn bei ADHS denken die meisten immer noch an zappelige Jungs. Es ist kaum bekannt, dass die Symptome sich keinesfalls verwachsen, sich aber wandeln können. Dass aus äußerer Unruhe etwa innere Unruhe werden kann. Mädchen fallen in der Schulzeit weniger auf, weil sie aufgrund ihrer Sozialisation ohnehin eher zurückhaltend, schüchtern, verträumt sind. In der Diagnostik im Erwachsenenalter ist das ein weiteres Problem. Denn um abschließend sagen zu können, ja, das ist ADHS, müssen Hinweise darauf schon in der Kindheit und Schulzeit vorhanden gewesen sein. Wenn aber im Zeugnis steht: etwas still, immer brav, dann kann das ablenken von der Tatsache, dass die Konzentrationsstörungen mit Mitte 20 sehr wohl auf einer Gehirnchemie beruhen, die durch ADHS von der Norm abweicht. Deshalb brauchen wir eine eigene ADHS-Diagnostik für Frauen. Ein weiterer Grund für die späte Diagnose ist ein biografischer: Erwachsen zu werden und auszuziehen. ADHS ist in hohem Maße erblich. Dadurch wachsen viele Betroffene in einem familiären Umfeld auf, das ihnen das Gefühl gibt, es ist doch normal, unordentlich, sprunghaft, verpeilt zu sein, und wenn es kritisch wird, fängt jemand das mit auf.
Aber dann steht man plötzlich auf eigenen Beinen, hat eine eigene Wohnung, einen Beruf – und ist für alles selbst verantwortlich. Auch mir ging es so. Mich überkam die Angst, wie ich das alles hinkriegen sollte. Und wenn jemand etwas merkt, als unprofessionell oder unzuverlässig zu gelten. Viele versuchen, zu maskieren, wie es ihnen geht, aus Angst, ihren Job und dadurch das kollegiale Umfeld zu verlieren, womöglich die Familie, die Freunde. Manche fangen dann an, Alkohol oder Drogen zu konsumieren, bekommen Depressionen oder eine Angststörung, weil sie beginnen, Situationen zu vermeiden, in denen sie abgewertet werden könnten. Andere entwickeln eine Zwangsstörung, weil sie alles doppelt und dreifach checken wollen, damit ihnen kein Fehler unterläuft und sie bloßstellt. Es ist nicht eine Situation, die zu solchen Komorbiditäten oder Nebendiagnosen führen, denn ADHS prägt eben das ganze Leben.
Ich selbst hatte Glück. Ich bin aufgewachsen in einer Familie, in der ich mich immer angenommen gefühlt habe. Bei mir entstand nie das Gefühl, alle sind unzufrieden mit mir, ich wäre gern anders, aber schaffe es nicht. Man sagt ja, dass die Stimmen, die früh von außen auf einen einwirken, irgendwann zu inneren Stimmen werden. Der innere Kritiker ist die Verinnerlichung der Kritik, Ver- und Gebote aus der Kindheit, damit geht man dann durchs Leben – das gilt gerade auch für Menschen mit ADHS. Bei mir ist das nie der Fall gewesen. Natürlich kenne ich Selbstzweifel, aber das hat bei mir nie die Überhand gewonnen. Ich konnte immer dagegen steuern.
Gleichzeitig ist es wichtig, den Leidensdruck der Betroffenen ernst zu nehmen, sie zu unterstützen und ihnen Hilfe zukommen zu lassen. Dazu gehört, mit dem „Pill Shaming“ aufzuhören. Mütter schildern mir, dass sie es selbst vor der eigenen Familie geheim halten, wenn ihr Kind Ritalin nimmt. Medikamente sind nicht per se gut oder schlecht. Es kommt immer auf die Umstände an, und es gibt viel Forschung, dass eine medikamentöse Behandlung, etwa auch in Kombination mit einer Psychotherapie, maßgeblich erfolgreich ist bei Menschen mit ADHS.
Ich nehme selbst seit längerer Zeit jeden Tag ein ADHS-Medikament . Ich bin ein ADHS-Mischtyp und ohne das Mittel ist der unaufmerksame Typ sehr dominant, ich bin dann in den Wolken, still und abgedriftet. So aber kommt das Hyperaktiv-Impulsive nach vorne, auch manchmal mit seinen negativen Aspekten. Aber zumindest habe ich ein bisschen mehr Antrieb, kann die Dinge besser strukturieren. Ich habe nicht so starke Stimmungsschwankungen und halte länger durch.
Trotzdem ist mein Kopf immer voller Gedanken und schon morgens checke ich als erstes meinen Insta-Kanal. Da melden sich immer viele Leute und ich möchte ihnen gerne antworten. Vermutlich ist das nicht der beste erste Schritt in den Tag, aber so ist das. Prioritäten richtig zu setzen, mir meine Zeit gut einzuteilen, dafür habe ich kein Gefühl, das bringt mich immer in die Bredouille. Abends habe ich zwar Dinge geschafft, aber nicht unbedingt die, die ich eigentlich hätte machen sollen. Vor kurzem sind mein Freund und ich in den Urlaub geflogen, nach Portugal. Es war nur ein Kurztrip, trotzdem habe ich einen 20-Kilo-Koffer gebucht, weil es mich stresst anzukommen und dann zu merken, dass ich etwas Wichtiges vergessen habe. Und ich war froh, mit meinem Partner zu fliegen. Und eben nicht alles allein machen zu müssen. Beim Mal davor hatte ich gesagt, ich kümmere mich um alles und drucke die Tickets aus, und hatte dann aber versehentlich alte Tickets von Mallorca dabei. Das hat uns dann 145 € am Schalter gekostet, ein Posten mehr auf der langen Liste der Kosten mit „ADHS-Steuer“. Die gibt es finanziell, psychisch, physisch, sozial. Dieses Mal haben wir die Buchung gemeinsam gemacht und die Tickets in der App auf dem Handy gespeichert.
ADHS bedeutet nicht nur anders zu sein und etwas nicht so gut zu können. Es bedeutet auch „neurodivergent“ zu sein: Menschen mit ADHS neigen zu ausgeprägter Kreativität und Empathie, zu alternativen Lösungsansätzen und einem Gespür für das Phantasievolle und Intuitive. Das, von dem viele Erwachsene sagen, sie wären gerne noch mal Kind, wo jeder Tag ein neues Abenteuer ist. Der ADHS wohnt das inne. Wie oft wurde mir gesagt: ,Du bist so kindisch, so albern!‘, aber ich liebe das an mir, und es ist mein Wunsch, dieses Selbstwertgefühl auch bei anderen Menschen mit ADHS wieder herstellen zu können. Persönlich bin ich überzeugt, dass die anstehenden Veränderungen durch die Künstliche Intelligenz und all die anstehenden Reformen etwa im Bereich Schule, Bildung, Gesundheitssystem und Arbeit eine Riesenchance für Menschen mit ADHS sein könnten. Gerade weil sie Lösungen finden, die neu sind, dabei empathisch und intuitiv sind – alles, was die KI nicht kann und nicht ist. Zumindest noch nicht.