Mangelnde Konzentration, Dinge aufschieben oder nie zu Ende bringen? Nicht immer ist das ein Hinweis auf ADHS im Erwachsenenalter. Wer jedoch betroffen ist, für den ist die Diagnose oft eine Erlösung. Dr. Bertram Schneeweiß, Chefarzt der kbo-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Taufkirchen (Vils), ordnet Erkrankung, Symptome, Diagnose und Therapiemöglichkeiten ein.
Herr Dr. Schneeweiß, es besteht derzeit eine hohe Nachfrage nach der Diagnose ,ADHS im Erwachsenenalter‘. Wie kommt das?
Es ist ein bisschen ein Trendthema. Manche Menschen halten sich für unkonzentriert, in ihrem Leben läuft nicht alles rund, sie meinen, vermutlich haben sie ADHS im Erwachsenenalter dafür gibt’s ein Medikament und damit wird alles gut. Aber so ist das nicht. Vor allem von Studierenden gibt es immer noch großes Interesse, aber wenn man genauer hingeschaut hat, haben sie eher etwa das falsche Studium gewählt und sind unglücklich damit. Da ist eher der psychologische Dienst der Uni oder die Studienberatung gefragt. Auch, wer seine Bachelorarbeit nicht abschließt, steht damit nicht allein da, das ist nichts Krankhaftes. Viele haben nur nicht richtig gelernt zu lernen. Zur Einordnung: Bei Kindern und Jugendlichen sind bis zu 6 Prozent von ADHS betroffen, bei Erwachsenen ist es mit 2,5 Prozent deutlich weniger.
Und wie kommt eine erwachsene Person, die ernsthaft annimmt, an ADHS zu leiden, an eine Diagnose?
Die hohe Nachfrage nach ADHS-Diagnostik führt leider zu langen Wartezeiten bei Spezialambulanzen für ADHS im Erwachsenenalter wie in der kbo-Klinik in Haar bei München oder auch bei niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiatern. Ich selbst arbeite mit ASRS-Fragebögen, dem ,Adult Self-Report Screening‘ (eine Selbstbeurteilung durch Patientinnen und Patienten, Anm. d. Red.), um in einem ersten Schritt herauszufinden, ob jemand womöglich tatsächlich ADHS hat. Ein Selbsttest kann auch schon erste Orientierung bieten.
Für eine ADHS-Diagnose im Erwachsenenalter muss die Störung schon in der Kindheit vorhanden gewesen sein, richtig?
Absolut. Es braucht eine Kontinuität von der Kindheit über die Jugend bis ins Erwachsenenalter. Ist das der Fall, wird beim Beginn der Pubertät um das 12. Lebensjahr auch meist zum ersten Mal ein Schulpsychologe oder eine Kinder- und Jugendpsychiaterin aufgesucht. Deren Berichte können wichtig sein, um ADHS im Erwachsenenalter verlässlich diagnostizieren zu können. Auch Vermerke im Schulzeugnis werden als Hinweise herangezogen.
Was zählt zu den Kernsymptomen?
Vor allem Aufmerksamkeitsstörungen, außerdem Hyperaktivität und Impulsivität. Wobei wichtig ist: Eine Aufmerksamkeitsstörung ist deutlich mehr als sich nicht konzentrieren zu können, wie bereits angedeutet. Im Gegenteil: ADHS-Patientinnen und -Patienten können sich manchmal sogar recht gut konzentrieren. Kurzfristige Projekte, schnell dies oder das machen, das können manche sogar sehr gut. An etwas aber länger dranbleiben, auch sorgfältig etwas nachsehen, das wird vermieden.
Welche Symptome gehören zu einer Aufmerksamkeitsstörung?
Eben Sorgfaltsfehler, Ausdauerprobleme, im Gespräch ständig abgelenkt zu werden, zumal wenn die Umgebung spannend ist. Aufgaben werden – nicht nur ab und zu, sondern meistens – nicht abgeschlossen. Dann Organisationsprobleme, man kriegt Dinge schlecht hintereinander sortiert und kann keine Prioritäten setzen. Wichtige Dinge verliert man immer wieder im Alltag: Handy, Brille, Schlüssel. Es ist chronisch und charakteristisch.
Sie sagen, Symptome wachsen sich zum Teil aus oder verändern sich?
Als Jugendlicher oder Jugendliche hat man gelernt, dass es nicht hilfreich ist, dauernd aufzuspringen und herumzulaufen. Muss man dann ruhig sitzen, gibt’s aber weiterhin das Zappeln mit den Händen oder Füßen und Spielen am Handy. Oder man nimmt sich buchstäblich zusammen, verschränkt die Arme vor dem Körper und hält sich so selbst fest und beieinander. Aus der motorischen Unruhe wird innere Getriebenheit und Nervosität. Auch wenn es vorher schon bestand: Desorganisiertheit fällt bei Erwachsenen deutlich mehr auf, sobald sie einen eigenen Alltag gestalten müssen. In fürsorglichen Familien ist das vielleicht nicht so zutage getreten, Mädchen bemühen sich oft um ein sozial angepasstes Verhalten, so erklären sich auch manche späten Diagnosen.
Welche begleitenden psychischen Symptome können sich im Erwachsenenalter zeigen?
Häufig treten Selbstwertprobleme auf. Glaubenssätze wie ,Ich schaffe sowieso nichts‘, ,Ich bin komisch‘ oder ,Ich mache alles kaputt‘ verfestigen sich. Wurde man als Kind gemobbt, ist das belastend, aber dann sind die anderen ,blöd‘. Später ändert sich das und man zweifelt vor allem an sich selbst. Das wiederum kann zu Depressionen führen bis hin zu erhöhter Suizidalität, zu Angst - und Zwangserkrankungen, emotionaler Instabilität, unter Umständen auch zu einer Borderline-Störung. Die Grundlage dafür wird ebenfalls schon in der Kindheit gelegt, vor allem, wenn Gewalterfahrungen, Vernachlässigung oder andere schwere Traumatisierungen hinzukommen. Das gilt auch für die Dissoziale Persönlichkeitsstörung: Kinder, die immer über die Stränge schlagen, sehr aggressiv sind, stehlen und etwa Tiere quälen, haben ein größeres Risiko, als Erwachsene straffällig zu werden.
Welche Therapiemöglichkeiten gibt es für Erwachsene mit ADHS?
Die wichtigste Frage ist: Wie komplex oder schwerwiegend ist die Störung? Sind die Symptome nicht so schwerwiegend und bin ich vielleicht spontaner, unkonventioneller und kreativer als andere, lässt sich ADHS auch als Chance sehen, als Ausdruck einer Neurodiversität. Man hat ADHS, es führt aber nicht zu Einbußen. Wenn doch, spielt Psychoedukation eine wichtige Rolle, die Aufklärung über die Erkrankung oder Besonderheit. Schon allein das entlastet und hilft nachhaltig, kann als Therapie ausreichen und Symptome abklingen lassen. Habe ich vereinzelt Probleme, etwa mit Arbeitskolleginnen und -kollegen, weil ich meinen Schreibtisch nicht aufräume, kann ein Coaching hilfreich sein, auch eine Psychotherapie, vor allem die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT). Reicht Psychoedukation nicht aus, raten wir schon frühzeitig zur Einnahme von Medikamenten, in der Regel Stimulanzien wie Methylphenidat oder Amphetamine.