Eine Psychose ist eine schwere psychiatrische Störung. Präventive Psychiatrie soll frühzeitig das Risiko ermitteln und die Erkrankung verhindern oder Symptome abmildern. In der groß angelegten Studie CARE lassen sich Mediziner und Psychologen dabei erfolgreich von einem KI-gestützten Verfahren assistieren, wie die Koordinatorin des Projektes, Prof. Eva Meisenzahl, erklärt.
Frau Prof. Meisenzahl, gemeinsam mit Ihrem Kollegen Prof. Nikolaos Koutsouleris haben Sie ein KI-gestütztes Verfahren zur Früherkennung von Psychosen entwickelt. Was versprechen Sie sich von diesem Diagnose-Instrument auf der Basis von Algorithmen?
Bei onkologischen Erkrankungen vertrauen internistische Kollegen schon länger auf KI-gestützte Daten zur Früherkennung. Die Psychiatrie hat hier Nachholbedarf, auch sie muss präventiver werden. Wir wissen, dass gerade die schwerwiegendste psychische Erkrankung, die Psychose, sich über einen Zeitraum von rund fünfeinhalb Jahren anbahnt. Wir sprechen von der ,Prodromalphase‘. Die Symptome werden aber oft nicht als Frühstadium einer Psychose erkannt und die Patienten nicht angemessen behandelt – bis sie mit einer akuten Psychose in die Klinik kommen. Das ist langwierig und auch teuer. Wir möchten das ändern.
Und wie hilft Ihnen die KI dabei?
Mittlerweile ist der ,klinische Hochrisikozustand für Psychosen‘ auch ein fachlich festgeschriebener Zustand, den wir bei Patienten untersuchen und feststellen können. Die KI hilft uns hinsichtlich der Frage, welcher der betroffenen Patienten tatsächlich eine Psychose entwickeln wird. Bisher wissen wir im Einzelfall nicht, welchen klinischen Verlauf die Erkrankung nehmen kann. Noch bis Ende 2025 läuft dazu unsere Studie CARE in Zusammenarbeit mit vielen Netzwerkpartnern an Früherkennungszentren (FEZ) in neun Bundesländern. Das Projekt besteht erstmalig aus einem großen Zusammenschluss von Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Erwachsenenpsychiatrie, mit Unterstützung der jeweiligen Fachgesellschaften.
Wenn Sie von „Psychosen“ sprechen, welche Erkrankungen sind genau gemeint?
Wir fassen den Begriff weit: Dazu gehören eine Schizophrenie, schizoaffektive Störungen sowie Depressionen mit schweren psychotischen Symptomen. In Deutschland erkranken ein bis zwei Prozent der Bevölkerung mindestens einmal in ihrem Leben daran. Dabei ist es wichtig zu wissen: Selbst eine Schizophrenie ist kein unabwendbares Schicksal. Vor allem, wenn das Risiko dafür frühzeitig erkannt und therapiert wird.
Wie funktioniert Ihr Verfahren?
Von 2013 bis 2018 haben wir im Rahmen einer europäischen Förderung Patienten mit einem klinischen Hochrisikozustand untersucht. Entstanden ist so eine Datenbank mit den Informationen von 2000 Patienten, bei denen auch klinisch im Langzeitverlauf evaluiert wurde, ob sie eine Psychose entwickelt haben oder nicht. Neben den eigentlichen Symptomen sind wichtige Marker wie Lebensumstände, Arbeit, Finanzen, soziales Umfeld, Hinweise auf erlittene körperliche oder psychische Traumata, außerdem Hirnscans und die Ergebnisse neuropsychologischer Tests eingeflossen. Das Ergebnis: 30 bis 40 Prozent aller Menschen mit einem erhöhten Risiko, eine Psychose zu entwickeln, erkranken tatsächlich daran. Experten wie Psychiater können das in sechs von zehn Fällen richtig vorhersagen, die KI verbessert diese Prognose aber zusätzlich um etwa 20 Prozent. Diese Möglichkeit setzen wir in der CARE-Studie ein und erforschen sie.
Was bedeutet das für die Studienteilnehmer?
In einem einstündigen Interview wird zunächst ermittelt, ob ein Patient sich in einem Hochrisikozustand für eine Psychose befinden. Trifft dies zu, kann er an der CARE-Studie teilnehmen. Ein Losverfahren entscheidet, ob dieser Patient mit den bisherigen therapeutischen Möglichkeiten behandelt wird, sofern er dies möchte – oder aber bringt ihn in den sogenannten Aktivarm der Studie. Dort erhält er eine vertiefte Diagnostik, und mittels der KI-Analyse wird zusätzlich ein messbar richtiger Befund erstellt: wie hoch sein Risiko tatsächlich ist, in den nächsten zwölf Monaten eine Psychose zu entwickeln und wie hoch das Risiko eines Funktionsabfalles ist. Das ist aus meiner Sicht wichtig, denn hier geht es um Arbeitsfähigkeit und Teilhabe für die Patienten.
Wenn das Risiko tatsächlich hoch ist: Wie kann den Betroffenen geholfen werden?
Den Patienten im Aktivarm wird eine psychiatrisch-psychotherapeutische Komplexbehandlung angeboten. Wenn erforderlich, können geringe Dosen eines Medikaments verschrieben werden. Im Vordergrund aber steht die Psychotherapie. Es mag überraschend klingen, aber diese spielt in der Behandlung von Psychosen eine zentrale Rolle. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass insbesondere Kognitive Verhaltenstherapie erfolgreich eine Psychose verhindern oder Symptome verringern kann, wenn sie bereits im Prodromalstadium eingesetzt wird. Je nachdem, wie hoch das Risiko für eine Psychose ist, bieten wir Studienteilnehmern 16 bis 24 Stunden Psychotherapie an. Dazu haben wir ein spezielles Manual entwickelt, mit verschiedenen Schwerpunkten. Denn eine Psychose beruht individuell auf verschiedenen Faktoren – und die KI kann uns auch präziser sagen, aus welchen Komponenten sich das Risiko zusammensetzt und wo wir als Behandler gemeinsam mit dem Patienten ansetzen sollten: sind es eher soziale Faktoren, Lebensereignisse oder biologische Aspekte aufgrund der Kernspintomographie des Kopfes?
Mit welchen Symptomen können sich Menschen als mögliche Studienteilnehmer melden?
Eine Vielzahl an Symptomen kann auf ein erhöhtes Psychose-Risiko hinweisen: Jemand fühlt sich von anderen Menschen beobachtet oder verfolgt; er oder sie hat das Gefühl, andere könnten seine oder ihre Gedanken lesen oder fremde Gedanken eingeben; akustische Halluzinationen wie das Hören von Stimmen, die niemand sonst wahrnimmt; der Eindruck, sich nicht mehr richtig konzentrieren zu können und dass es ein Wirrwarr an Gedanken unmöglich macht, beim Denken oder Sprechen einem roten Faden zu folgen. Man versteht Straßenschilder plötzlich nicht mehr oder die eigene Muttersprache erscheint einem fremd. Solche Erfahrungen sind oft beängstigend, führen zu sozialem Rückzug und sogar in die Depression. Junge Menschen kommen nicht mehr richtig mit in der Schule, weil ihr Verständnis von Sprache gestört ist. Psychiatrische Erkrankungen treten häufig das erste Mal im Jugendalter auf, manchmal auch später. Unsere Studie wendet sich daher an betroffene Menschen im Alter von 16 bis 40 Jahren. Wer entsprechende Schwierigkeiten erlebt, kann sich gerne bei uns melden .
Was ist mit Betroffenen, deren Psychose-Risiko sich als gering erweist?
Häufig sind sie sozial beeinträchtigt, haben ebenfalls Probleme auf dem Arbeitsmarkt und entwickeln später andere Erkrankungen. Daher ist es wichtig, auch mit diesen Patienten ihr ,soziales Funktionsniveau‘ zu betrachten. Denn wir hoffen, diesen Menschen ebenfalls helfen zu können, wenn sie rechtzeitig zu uns kommen. Meine Vision wäre, dass wir zukünftig zertifizierte Präventions- und Früherkennungsambulanzen haben so wie es zertifizierte neurologische Einheiten für die Frühbehandlung des Schlaganfalls gibt. Und dass die Diagnostik nicht auf einem unstrukturierten Prozess beruht, sondern einer klaren Vorgabe von diagnostischen Leitfäden folgt. Die KI kann uns dann wertvolle Assistenzdienste leisten. Sie hilft uns Experten zu begründen, von welchen Risiken für den jeweiligen Patienten wir ausgehen und warum wir welche Therapien vorschlagen.
Wird die Freigabe von Cannabis zu einem Anstieg von Psychosen führen?
Ganz bestimmt, ich halte die Freigabe von Cannabis für eine Fehlentscheidung. Mehr Angebot führt zu mehr Konsum. Wir sind jetzt schon an der Belastungsgrenze bei der Behandlung junger Patienten, die durch Cannabis eine Psychose erleiden. Heutige Cannabis-Züchtungen enthalten zudem oft einen deutlich höheren Prozentsatz der psychoaktiven Substanz THC. Das führt dazu, das schon gelegentlicher Konsum ein höheres Risiko für eine Psychose birgt.
Prof. Eva Meisenzahl ist Psychiaterin, Lehrstuhlinhaberin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Chefärztin am LVR-Klinikum Düsseldorf. Sie hat das KI-gestützte Diagnose-Instrument zur Früherkennung von Psychosen mitentwickelt und ist dafür 2023 von der Rhön-Stiftung ausgezeichnet worden.