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Skillstraining gegen Borderline-Störung

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ÖL
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Chili-Bonbon, Stachelball, starkes Pfefferminzöl: Ein starker Sinnesreiz kann Borderline-Patienten und -Patientinnen helfen, ihre übermächtigen Emotionen zu regulieren. Wie sie dabei vorgehen, lernen sie im Skillstraining auf der Borderline-Station der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Kassel. Die Patientin Anna Römer berichtet, wie sie es damit geschafft hat, sich nicht länger selbst zu verletzen.

Wenn die Wut übermächtig wurde, hat Anna Römer andere Menschen angeschrien und mit Worten verletzt. Sich selbst aber schnitt sie mit einer scharfen Klinge oder schlug ihren Kopf gegen eine Wand. In einer solchen Phase spürte die Kasselerin ihren eigenen Körper nicht mehr. Sie fühlte sich leer und dachte an Selbstmord. Immer wieder traten diese Momente auf, die sie hilflos und verzweifelt zurückließen. 

Diagnose Borderline: Was nun?

2020 erfuhr sie mit Anfang 20, dass eine Borderline-Persönlichkeitsstörung die Ursache für ihre Impulsivität und die intensiven Gefühle ist, die sie nicht kontrollieren konnte: Wut, Scham, Ohnmacht, Schuld, alles gleichzeitig. Im gleichen Jahr ließ sich die junge Frau wegen dieser „Störung der Gefühlsregulation“ erstmals in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Kassel behandeln. Dort begann sie auch, sich Fähigkeiten anzueignen, sogenannte Skills, um diesen starken Emotionen nicht länger ausgeliefert zu sein. Es waren die ersten Schritte auf einem Weg zur anhaltenden Linderung der Symptome.

„Nach der ersten Behandlung haben sich meine Symptome gebessert, aber sie können trotzdem wieder stärker werden“, berichtete Anna Römer einer Journalistin der Hessischen Allgemeinen Zeitung im Dezember 2024. Weil ihre Erkrankung immer noch zu Stigmatisierung führen kann, wurde ihr Name in dem Artikel verändert. Zu diesem Zeitpunkt war sie erneut in der Klinik und beendete eine mehrwöchige Krisenintervention. 

Besserung erreichen mit Dialektisch-Behavioraler Therapie

Von Januar bis Ende März 2025 kehrte sie für eine dreimonatige Behandlung mit der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) zurück. Auf diese Form der Verhaltenstherapie ist die Station 2.2 der Kassler Vitos Klinik spezialisiert. Die DBT wurde speziell für Borderline-Patienten entwickelt und gilt als wissenschaftlich am besten erforscht. Die Station 2.2 der Kassler Vitos Klinik ist als einzige in Nordhessen vom deutschen DBT-Dachverband als „DBT-Behandlungseinheit“ zertifiziert, ebenso wie die Borderline-Stationen der Vitos Kliniken in Gießen und Hadamar

„Diese Therapie hilft den Patienten dabei, Gefühle zu regulieren, ohne sie zu unterdrücken“, erklärt Oberärztin Dr. Daniela Jung. Ziel sei es, „dass die Patienten sich keine Selbstverletzungen mehr zufügen oder Drogen nehmen.“ Denn oft sehen die Betroffenen keinen anderen Ausweg aus den sogenannten Hochspannungszuständen („high arousal“), die sie immer wieder erleben. Anna Römer beschreibt, dass sie dann auch „dissoziiert“, sich sozusagen rauszieht aus der Realität, dann aber teils traumatische Situationen erneut durchlebe. Studien zeigen, dass Patienten und Patientinnen mit Borderline-Störungen häufig traumatisierende Erfahrungen in der Kindheit gemacht haben: beispielsweise sexuellen oder emotionalen Missbrauch sowie emotionale Vernachlässigung. 

Ein Trauma gilt als wesentlicher Risikofaktor, eine Borderline-Störung oder „emotional instabile Störung vom Borderline-Typus“ zu entwickeln. Wer als Kind so etwas Überwältigendes erlebt hat, hatte nicht immer die Möglichkeit, einen adäquaten Umgang gerade auch mit unangenehmen Emotionen zu erlernen. Später im Leben reichen dann oft Kleinigkeiten – beispielsweise ein Blick oder Tonfall, die anderen Menschen nicht einmal auffallen würden –, um bei Menschen mit einer Borderline-Störung extreme Gefühle auszulösen, verbunden mit der tiefliegenden Angst, verlassen zu werden.

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Kunsttherapie
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Skillstraining: Lernen, extrem starke Gefühle zu regulieren

Hier setzt die DBT an. Sie kombiniert Psychotherapie mit Medizin, psychiatrische Pflege mit Bewegungs-, Physio-, Ergo- und Kunsttherapie. Und sie fördert insbesondere auch die Selbstwirksamkeit der Borderline-Patienten und -Patientinnen. Sie lernen nicht nur, achtsamer sich selbst und anderen gegenüber zu sein und immer besser zu bemerken, wann sie sich in quälenden Erinnerungen verlieren, die wiederum alte Gefühle wachrufen können. Sie bekommen auch Methoden, eben die Skills, an die Hand. Dabei geht es nicht nur um die Theorie, sondern vor allem um das Anwenden der gelernten Skills mit dem Skillstraining. 

Auf der Station gibt es Wagen mit sogenannten Tools oder Werkzeugen. Bei hoher Anspannung können die Betroffenen hier selbst auswählen, was sie dagegensetzen wollen: beispielsweise einen „Stachelball“ aus Gummi, den sie kräftig drücken; ein Chili-Bonbon, das sie lutschen; ein Kühlpack zum Auflegen auf die Haut; ein Fläschchen mit japanischem Heilöl, an dem sie riechen. Die Idee dahinter: Ein zweiter starker Sinnesreiz soll die Aufmerksamkeit abziehen vom starken inneren Reiz der Emotionen. Diese lassen sich so besser aushalten und regulieren. Ebbt die Gefühlswelle dann ab, lassen sich die Gefühle auch bearbeiten.

Große Auswahl an „Skills“

Ob Riechen, Schmecken, Hören oder Fühlen: In der DBT gibt es lange Listen mit erprobten Ideen, wie Betroffene sich am besten selbst unterstützen können. Bei dem einen wirken vielleicht Gerüche etwa von Räucherstäbchen oder der Lieblings-Bodylotion als besonders entlastend, anderen helfen Geräusche wie Vogelgezwitscher, Wellenrauschen oder das Prasseln von Regentropfen aufs Dach – inzwischen ist das alles als Audiodatei verfügbar. Auch empfohlen: ein Gummiband am Handgelenk schnalzen lassen oder von 100 aus in Siebenerschritten rückwärts zählen: 93, 86, 79... . „Ich nutze auch sehr saure Bonbons und Düfte“, berichtet Anna Römer der Hessischen Allgemeinen Zeitung. Und sie trage eine Ampulle mit Ammoniak-Geruch bei sich. Der stechend-durchdringende Geruch ist für sie ein gutes Gegenmittel. 

„Die DBT soll Patienten unterstützen, eigene Ziele im Leben zu erreichen“, betont Oberärztin Daniela Jung. Beruf und Partnerschaft gestalten sich schwierig, wenn jemand immer wieder scheinbar urplötzlich Wutausbrüche bekommt. „Die Therapie ist für die Betroffenen harte Arbeit“, sagt Dr. Matthias Bender, Direktor der Vitos Klinik in Kassel, „wird die stationäre und anschließende ambulante Behandlung aber durchgezogen, ist die Prognose ausgesprochen gut.“ Als Anna Römer Anfang 2025 auf die Borderline-Station zurückkehrte, war sie schon einen großen Schritt vorangekommen. Seit mehr als 20 Monaten hatte sie sich nicht mehr selbst verletzt.