Falsch verstandene Fürsorge, ein Nicht-Wahrhaben-Wollen und Angst vor Veränderung tragen dazu bei, dass Angehörige von Suchtkranken häufig in eine sogenannte Co-Abhängigkeit geraten. Wieso diese verhindern kann, dass Alkoholiker, Drogen- oder etwa Internetsüchtige therapeutische Hilfe erhalten und wie Angehörige aus dieser Spirale herausfinden, schildert Dr. Barbara Gerstenmaier, ärztliche Leiterin der Tagesklinik am Suchttherapiezentrum des ZfP Südwürttemberg in Ulm.
Wie Co-Abhängigkeit aussehen kann

Kinder, die Schnapsflaschen ihrer alkoholabhängigen Eltern in den Ausguss kippen oder sie telefonisch beim Arbeitgeber krankmelden; Eltern, die immer wieder die Internetsucht ihres Sohnes mit „das ist die Pubertät und geht vorüber“ entschuldigen; Männer oder Frauen, die sich nicht eingestehen wollen, die dulden, verheimlichen oder bagatellisieren, dass ihre Partnerin oder ihr Partner zu viel trinkt, Tabletten schluckt, krankhaft viel einkauft: Angehörige von Menschen mit Suchterkrankungen verhalten sich häufig co-abhängig. Damit tragen sie, meist unbewusst, dazu bei, den Konsum und damit die Erkrankung aufrecht zu erhalten. „Nicht hinzuschauen“, fasst Dr. Barbara Gerstenmaier die verschiedenen Muster der Co-Abhängigkeit zusammen, die bei jeder Form von Sucht auftreten kann. Die Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie leitet die Suchttagesklinik und Suchtambulanz am ZfP-Suchttherapiezentrum in Ulm.
„Der erste Schritt aus der Co-Abhängigkeit besteht tatsächlich darin, ehrlich hinzusehen, beim Betroffenen und bei sich selbst, und zu benennen, was ist.“, erläutert die erfahrene Suchtmedizinerin. Gerade dieser Schritt aber falle vielen Menschen schwer: „Sie scheuen ihn, weil sie Angst vor Veränderung haben und sich mitschuldig fühlen an der Erkrankung ihres Partners, Elternteils oder Kindes. Als Mitschuld darf der Begriff der Co-Abhängigkeit aber nicht verstanden werden, das betonen wir in Beratungen immer wieder“, fügt Dr. Gerstenmaier hinzu. „Es ist vollkommen menschlich, zu hoffen, dass es sich nur um eine Phase handelt, es schon nicht so schlimm ist, oder der andere ja vielleicht doch auch selbst das Ruder wieder herumreißt.“
Keine Mitschuld: Wieso Co-Abhängigkeit entsteht
Viele Angehörige oder auch Arbeitskollegen handeln aus falsch verstandener Fürsorge rücksichtsvoll. Sie fürchten auch, falsch zu liegen, nicht die richtigen Worte zu finden oder dass es womöglich zu einem Bruch in der Beziehung kommt. „Die Gründe sind vielfältig und verständlich“, so Dr. Gerstenmaier, „aber erst, wenn wahrgenommen wird, was ist, kann auch eine Veränderung eintreten.“ Dieser Wille zur Veränderung muss jedoch vom Suchterkrankten selbst ausgehen. „So arbeiten wir auch in der Therapie“, erklärt die Psychiaterin, „wir versuchen, die Eigenmotivation zu fördern und nach Gründen zu suchen, wofür sich eine Veränderung des Suchtverhaltens lohnt.“ Partner, die etwa einem Alkoholsüchtigen Vorhaltungen machen oder ihn auffordern, „jetzt tu endlich was!“, erreichen in der Regel nichts oder sogar das Gegenteil. Viele Süchtige hätten bereits wiederholt „Selbststoppversuche“ unternommen, seien damit aber gescheitert. Durch Vorwürfe würde die damit verbundene Scham oft nur verstärkt.
Wie Angehörige aus der Co-Abhängigkeit herauskommen können
Was können Angehörige also tun? „Es geht um Gespräche auf Augenhöhe, nicht moralisch, verurteilend oder von oben herab“, erklärt Dr. Gerstenmaier. Stattdessen könnten Angehörige oder Kollegen in konkreten Situationen im Alltag etwa sagen: „Mir fällt auf, dass Du nicht mehr in der Lage bist, aufmerksam an Gesprächen teilzunehmen, wenn Du zu viel getrunken hast.“ Oder: „Wenn Du zu viel getrunken hast, kannst Du unseren Kindern nicht wach und aufmerksam begegnen, das spüren sie.“ Und: „Ich mache mir Sorgen.“ Oder: „Ich will, dass es dir und uns gut geht, aber ohne die Sucht.“
Bemerken die Betroffenen, was auf dem Spiel steht, wachse in ihnen eher die Motivation, die Verantwortung für ihre Sucht zu übernehmen und sich helfen zu lassen. Was dem zusätzlich im Weg stehen kann: Häufig suchten Suchtkranke bei ihren Angehörigen oder äußeren Umständen die Gründe für ihre Abhängigkeit: ,Wenn wir uns besser verstünden oder der Job weniger stressig wäre, müsste ich keine Drogen nehmen.' Auch eine solche Einstellung könne verhindern, dass die Betroffenen selbst etwas unternehmen. „Angehörige müssen dann nicht alles bis zum bitteren Ende mittragen oder miterleben“, betont Dr. Gerstenmaier, „manchmal muss man sich klar abgrenzen bis hin zur Trennung, egal, was es vielleicht für finanzielle oder soziale Zwänge gibt.“

Besonders belastet: Kinder in der Co-Abhängigkeit
Geraten Kinder in eine Co-Abhängigkeit, übernehmen sie oft für ihre Eltern(teile) erwachsene Aufgaben wie Einkaufen, Kochen, Telefonate, Aufpassen auf jüngere Kinder. Die Psychologie spricht hier von Parentifizierung. „Schon ganz kleine Kinder versuchen zu verbergen, wie schlecht es ihren Eltern geht, weil sie fürchten, von ihnen getrennt zu werden“, berichtet Dr. Gerstenmaier. Eine „Inobhutnahme“ durch das Jugendamt und eine Vermittlung in eine Pflegefamilie sei jedoch nur in gravierenden Fällen der Kindeswohlgefährdung erforderlich und sinnvoll.
Helfen könnten therapeutische Gruppenangebote der Sucht- und Drogenberatungsstellen für Kinder und Jugendliche. Hierbei gehe es um Austausch und die Erfahrung, dass man mit seinen Problemen nicht alleine ist. Und auch darum, dass sie wieder lernen, einfach Kind sein zu dürfen. Befinden sich die Eltern in suchtspezifischer Behandlung, werde versucht, auch Kinder einzubinden, etwa in Familiengesprächen, und Hilfs- und Unterstützungsangebote für sie zu vermitteln. „Ich gehe aber zugleich davon aus, dass es eine große Dunkelziffer an Kindern gibt, die sehr darunter leiden, bei suchtkranken Eltern aufzuwachsen“, sagt Dr. Gerstenmaier. Aus der Forschung ist bekannt, dass solche Kinder ein erhöhtes Risiko haben, selbst psychisch zu erkranken.
Gleiches gilt für erwachsene Angehörige von Suchtkranken, die überdurchschnittlich oft etwa eine Depression entwickeln. Für sie ist das bewusste „Hinschauen“ deshalb auch aus Gründen der gesundheitlichen Selbstfürsorge und des Selbstschutzes wichtig: Es unterstützt sie dabei, sich selbst wieder in den Mittelpunkt zu stellen und für ihre eigenen Bedürfnisse zu sorgen. Sucht- und Drogenberatungsstellen und Institutsambulanzen an psychiatrischen Kliniken bieten dabei Unterstützung an, ebenso Selbsthilfegruppen für Angehörie.