Ob Wandern, Yoga oder Klettern: Bewegung kann heilen – und ist manchmal der erste Schritt zurück ins Leben.
Frau Linhart-Brand, Sie arbeiten als Bewegungstherapeutin mit psychisch erkrankten Menschen am kbo-Isar-Amper-Klinikum Region München. Wie entscheiden Sie, welche Sportart zu wem passt?
Das beginnt immer bei den Patienten und Patientinnen: Wo steht dieser Mensch? Was ist seine psychische und körperliche Ausgangslage, und was möchte er erreichen? In einer Reha-Klinik nach einer Hüft-OP stellt man sich als Bewegungstherapeutin andere Fragen als bei uns in der Psychosomatik und Psychiatrie. Wir arbeiten an Achtsamkeit und Körperbewusstsein, und oftmals auch daran, überhaupt wieder ein Gespür für sich selbst zu entwickeln. Natürlich schauen wir auch, wie sich neue Gewohnheiten in der Tagesstruktur verankern lassen.
Wie finden Sie heraus, was jemand wirklich braucht?
Das ist immer ein Dialog, und ich habe festgestellt, dass man schnell erfährt, wie jemand in Bezug auf Sport und seine Bereitschaft dazu tickt, wenn man nach dem Verhältnis zum Schulsport fragt. Einige erinnern sich gerne daran und sind sportlich. Andere standen eher am Rand und fühlten sich ausgeschlossen. Die Motivierten zu unterstützen, ist leicht. Die Herausforderung sind diejenigen, die eher schlechte Erfahrungen gemacht haben und Sport nicht als Ressource, sondern als Bedrohung oder Schmerzquelle sehen. Als Bewegungstherapeutin muss ich hier erst einmal Beziehung aufbauen und den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, auf den wir uns einigen können. In der Klinik ist die Verbindung der Schlüssel. Das unterscheidet Bewegungstherapie vom Fitness- oder Breitensport.
Wie machen Sie Ihr Angebot jemandem schmackhaft, der noch nie ein gutes Verhältnis zum Sport und seinem Körper hatte?
Ein stark übergewichtiger Patient erklärt mir immer wieder sehr wortgewandt, warum es ausgerechnet heute mit dem Sport nicht klappt. Dabei unterscheide ich drei Ebenen: Erstens: Vielleicht geht es ihm heute wirklich nicht gut – das kann ich nachvollziehen. Zweitens: Er befindet sich im Widerstand, weil ich etwas von ihm möchte, das für ihn unangenehm ist. Auch dafür habe ich Verständnis. Es ist seine Strategie, einen Grund zu finden, um nicht das zu tun, was ihm eigentlich guttäte – solche Mechanismen kennen wir alle aus unserem eigenen Leben. Drittens: Trotz meines Verständnisses kann ich nicht einverstanden sein. Denn als Therapeutin ist es meine Aufgabe, ihn dazu zu motivieren, etwas zu tun, das er im Moment ablehnt.
Wie kommunizieren Sie das?
Ich versuche, eine Mischung aus Mitgefühl und klarer Haltung zu finden. Schließlich möchte ich nicht gegen den Menschen arbeiten, aber auch nicht für seine Symptome. Das ist ein schmaler Grat. Und genau da braucht es die Ebene der Beziehung. Nur wenn sie tragfähig ist, kann ich überhaupt etwas bewirken. Therapie heißt auch Widerstand zu überwinden. Wenn ich es schaffe, meine Widerstände zu überwinden, trotz Regen, trotz Müdigkeit raus zu gehen, dann bin ich auf dem Weg der Veränderung. Wenn ich anfange, etwas anders als bisher zu machen, dann beginnt Veränderung. Überwindung ist ein großes Thema in der Motivationsarbeit.
Gibt es bestimmte Sportarten, die sich besonders gut für bestimmte Erkrankungen eignen?
Ein Bandscheibenvorfall braucht andere Impulse als eine Depression – bei Letzterer denken viele an Klettern. Tatsächlich zeigen Studien, dass die Herausforderungen an der Wand depressive Symptome lindern können. Doch was hilft, ist immer individuell und muss in der Therapie gemeinsam herausgefunden werden.
Wie gehen Sie bei Angsterkrankungen vor?
Menschen mit einer Angsterkrankung, zum Beispiel mit körperlichen Symptomen wie der Angst, ihr Herz könnte krank sein, müssen in der Übung erleben, dass ihr Körper Bewegung und Belastung gut aushält – und sogar darauf angewiesen ist. Dieses Wissen gilt es mitunter erst wieder freizulegen. Ähnlich wie in der Verhaltenstherapie kann ich mit Exposition arbeiten. Beim ersten Mal besuchen wir nur den Sportraum und schauen uns die Geräte an. Das nächste Mal machen wir dort schon leichte Bewegungen.
Wie sorgen Sie dafür, dass eine Mutter mit drei Kindern die neue Yoga-Routine im Alltag beibehält?

Wir gehen ganz genau ihre Woche durch und schauen uns an, wie Montag ausschaut oder der Dienstag. Und dann suchen wir nach Möglichkeiten, die Sporteinheiten einzubauen. Vielleicht klappt es abends, wenn die Kinder im Bett sind. Oder die Frau macht mit ihrem Baby im Tragetuch längere Spaziergänge und währenddessen eine Atemübung. Mir ist ganz wichtig, dass nicht die Perfektion das Ziel ist. Es geht darum, überhaupt in Schwung zu kommen, innerlich wie äußerlich. Denn Bewegung ist nicht nur Sport, es ist ein Lebensgefühl, ein Sich-Erheben und aus der Starre kommen. Dafür brauchen wir manchmal jemanden, der uns Brücken baut und sagt: „Ich sehe dich und deine Realität. Und ich glaube trotzdem daran, dass es möglich ist.“
Gab es einen besonders bewegenden Moment in Ihrer Arbeit?
Oh ja, viele, aber gerade erst war ein Mann mit schwerer Zwangsstörung bei mir in der Klettertherapie. Er hat dort Dinge zugelassen, die er sich nie zuvor getraut hat. Kontrolle abzugeben zum Beispiel, was bei dieser Diagnose ein Riesenschritt ist. Und er konnte mich als Frau akzeptieren – auch das war ein Thema für ihn. Das sind echte Meilensteine, aus denen er Hoffnung schöpfen kann auch für andere Lebensbereiche. Er merkt: „Es lohnt sich, dranzubleiben. Das, was ich heute tue, zeigt morgen Wirkung.“
Was raten Sie jemandem, der seine mentale Gesundheit durch Bewegung und Sport erhalten möchte?
Einfach machen. Such dir etwas, das dir Freude bereitet, nicht etwas, was auf Instagram gut aussieht. Du brauchst keine fancy Leggins, keine teure Ausrüstung. Zieh einfach deine Schuhe an, verabrede dich – denn gemeinsam fällt es oft leichter – und geh los. So wirst du etwas finden, das dich bewegt.
