Mit 55 Jahren erkrankte ihre Mutter an Alzheimer: Peggy Elfmann ging durch viele Momente der Angst und Einsamkeit – bis die Journalistin begann, ihre Erfahrungen in einem inzwischen preisgekrönten Blog zu teilen. Daraus entstanden zudem zwei Bücher und ein Podcast. Das große Feedback, vor allem von anderen Angehörigen, zeigt: So etwas hat gefehlt in einer Gesellschaft, in der aktuell rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz-Diagnose leben. Hier spricht Peggy Elfmann über wichtige Erkenntnisse, den langen Weg des Abschiednehmens und das, was bleibt.
Frau Elfmann, Sie haben Ihre Mutter lange mit ihrer Alzheimer-Erkrankung begleitet. Was war nach der Diagnose der schwerste Moment für Sie?
Nicht zu wissen, was kommt und gleichzeitig die unglaubliche Angst, dass alles ganz schnell verläuft. Das war das Schlimmste. Es hätte mir sehr geholfen, wenn mir jemand gesagt hätte, dass wir viele Jahre haben, um in die Dinge hineinzuwachsen. Und nicht nur: ,Wir wissen auch nicht, wie die Krankheit verläuft.‘ Einfach diese Angst zu nehmen, dass jetzt abrupt alles vorbei ist. Ich hatte bis dahin nicht viel mit Alzheimer zu tun gehabt und sofort das Bild des Endstadiums im Kopf. Dabei hat sich ja dann gezeigt, dass es erstmal normal weitergegangen ist. Mit der Diagnose ändert sich ja nicht der Mensch.
Wie ging es weiter?
Die Alzheimer-Erkrankung schritt nur langsam voran. Meine Eltern hatten lange Zeit so etwas wie einen normalen Alltag, mit viel Routinen und Struktur. Ganz wichtig war das Spazierengehen für sie. Sie haben täglich lange Runden gedreht und ich glaube, das hat vielfach gut getan. Zum einen war Mama immer gerne in der Natur. Dort wurde sie immer wacher und aktiver, hat sich an ihrer Umgebung gefreut. Ich habe auch die Spaziergänge mit meiner Mama sehr genossen. Aber mit den Jahren sind die Veränderungen mehr geworden. Meine Mama lebte schließlich sehr zurückgezogen in ihrer Welt, sie schlief viel. Ich hatte aber das Gefühl, dass es ihr in dem gut geht, dass sie in einer befriedenden Ruhe ist. Soweit ich das von außen sagen kann. Niemand kann ja in einen Menschen mit Demenz hineinschauen und sagen, wie es ihm wirklich geht.
Ihre Mutter lebte fast bis zu ihrem Tod mit Ihrem Vater in einem Haus, einige hundert Kilometer von Ihnen entfernt?
Ja. Anfangs hatten wir zwar mal überlegt, ob meine Eltern umziehen sollen, zu mir oder meinem Bruder. Aber zuhause zu bleiben, war für sie immer wichtig. Wir haben dann Schritt für Schritt immer mehr Unterstützung von extern in Anspruch genommen, damit dies daheim gut funktioniert und Papa Hilfe bekommt. Erst war es lange Zeit die Tagespflege, zu der Mama ging. Schließlich kam ein ambulanter Pflegedienst, erst ein Mal wöchentlich, am Ende dann täglich zwei Mal. An manchen Tagen haben die Mitarbeitenden auch die Betreuung übernommen, um Papa zu entlasten. Ihm ist es immer schwer gefallen, Hilfe anzunehmen. Aber gleichzeitig war es so wichtig und hat ihm gut getan.
Ihr Vater begleitete seine Frau seit der Diagnose 2011. Ist das ungewöhnlich, über so lange Zeit?
Die meisten Menschen werden zuhause gepflegt und begleitet. Es kommt aber auch immer sehr auf die Art der Demenzerkrankung, die jeweilige Phase und die Umstände an. Wenn meine Mama nachts eine große Unruhe gehabt hätte und nicht mehr geschlafen hätte oder schwierige Verhaltensveränderungen entwickelt hätte, hätte das vermutlich nicht so lange funktioniert. Jeder Verlauf ist individuell und man merkt erst mit der Zeit, was mit der Erkrankung einhergehen kann.
Als Ihre Mutter erkrankte, gab es noch nicht Ihren Blog, Ihre Bücher und Ihren gemeinsamen Podcast mit Anja Kälin für Desideria Care.
Es ist insgesamt viel passiert seither. Die Alzheimer-Gesellschaften haben ganz viele Programme, Angebote und Gesprächsmöglichkeiten entwickelt, gerade auch für Angehörige. Damals war das anders und ich hätte nicht gedacht, dass mich die Krankheit meiner Mama so sehr an meine Grenzen führen würde. Ich dachte, ich stelle mich vielleicht doof an oder es wird mir alles persönlich zu viel. Es ist einfach eine krasse Krankheit, die auch die Angehörigen trifft. Da ist es wohltuend zu merken: Ich bin nicht allein. In Deutschland allein leben derzeit 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz-Diagnose und damit auch ihre Angehörigen. Die Zahlen werden in den kommenden Jahren noch steigen.
Sie helfen anderen mit Ihrem Blog. Hat er Ihnen geholfen, Ihre Gefühle und Gedanken so zum Ausdruck zu bringen, wie Sie es brauchen?
Auf jeden Fall. Es ist wichtig, reflektieren zu können: Was passiert eigentlich, warum sind die Dinge gerade so und was brauche ich als Angehörige, um da gut durchzukommen? Bei mir ist es das Schreiben. Ich bekomme gerade von Angehörigen viel Feedback, dass sie sich darin wiederfinden. Es hilft ihnen beim eigenen Nachdenken oder dabei, eine Lösung zu finden. Auch einfach durch dieses Gefühl: Ich bin verstanden. Mir geht es nicht nur alleine so. Zu merken, dass wir viele sind.
Was empfehlen Sie für den Umgang mit Trauer, Angst, Wut, dem Gefühl des Verlusts?
Es hilft, zunächst einmal zu bemerken, dass es diese Gefühle gibt. Diese Traurigkeit bei den Betroffenen und bei den Angehörigen, die kann man nicht verdrängen, auch nicht wegreden. Die ist einfach da. Die Menschen sind unterschiedlich, aber vielen hilft es, darüber zu sprechen, zu schreiben. Jeder findet seinen eigenen Umgang. Wichtig ist, diesen Gefühlen einen Platz einzuräumen und sie auch zu zeigen. Das kann auch im Austausch mit anderen, etwa in einer Selbsthilfegruppe, sein.
Wie haben Sie selbst den Umgang mit der Erkrankung gefunden? War das ein Prozess?
Ich habe viel gelesen über das Thema und trotzdem ganz viel falsch gemacht im Miteinander. Man liest, was man nicht machen soll, aber im Alltag geht das manchmal unter, und es ist schwierig, immer entspannt und gelassen zu bleiben. Manchmal weiß man auch gar nicht, dass es die Erkrankung ist und nicht Unwillen oder Desinteresse.
Könnten Sie ein Beispiel geben?
Meine Mama hat in einer Phase sehr viel abgespült und war immer in der Küche. Ich wollte aber, dass es ihr gut geht und sie sowas nicht machen muss. Ich erinnere mich an eine Situation: Ich habe ihr damals den Spüllappen abgenommen und gesagt ,Geh doch ins Wohnzimmer, ich mach das jetzt.‘ Sie ist dann aus der Küche gegangen und hat draußen angefangen zu weinen. In dem Moment habe ich verstanden, wie wenig ich mich in sie hineinversetzt habe. Sich ins Wohnzimmer zu setzen, war vermutlich sehr unangenehm für sie, weil sie nicht mehr richtig Gesprächen folgen konnte, sich gleichzeitig unruhig fühlte und unsicher. Das Abspülen hingegen war für sie eine gute Routine. Vielleicht gab es ihr auch das Gefühl, weiterhin etwas leisten zu können, nicht nur Alzheimer-Patientin zu sein. Man macht halt so viele Fehler. Geduld oder auch Humor zu entwickeln, das ist ein Lernprozess. Als Angehöriger muss man auch mit sich selbst geduldig und nachsichtig sein. Zu spülen, das war etwas, was meine Mutter konnte. Es hat ihr vielleicht auch das Gefühl gegeben, etwas Wichtiges zu tun und gebraucht zu werden. Für Menschen mit Demenz ist es wichtig, eingebunden zu sein und eine Aufgabe zu bekommen. Das fehlt oft, auch in Form von Angeboten etwa in der Tagespflege. Besonders auch für Menschen in einem frühen Stadium und für jung an Demenz Erkrankte.
Ihre Mutter hat irgendwann immer weniger gesprochen. Wie konnten Sie mit ihr in Kontakt kommen?
Lange ging das durch gemeinsame Spaziergänge, das gab ihr Halt und Struktur. Meine Mama war früher immer viel und gerne draußen in der Natur. In jeder Biografie mag es etwas anderes geben, was dem anderen viel bedeutet. Ich habe häufiger den Satz gelesen, dass Menschen mit Demenz gehen und nur noch eine leere Hülle sind, aber das ist nicht so. Meine Mama verstand zwar dann irgendwann nicht mehr, worüber wir redeten. Aber wie wir sprachen und welche Emotionen mitschwangen, das konnte sie immer noch wahrnehmen. Ich erinnere mich an eine Situation, die nicht so lange vor ihrem Tod war. Ich dachte, Mama würde schlafen, weil sie ihre Augen geschlossen hatte und wirkte, als sei sie in einer anderen Welt. Wir haben über traurige Dinge gesprochen und da fing sie auch an zu weinen. Dass die Emotionen lange bleiben, ist auch eine Ressource und wichtig zu wissen für die Angehörigen.
Sie sprachen von einem langen Abschied. Wie gingen Sie damit um?
Ich habe viel darüber geschrieben und tue es immer noch. Da war bestimmt der Wunsch dabei, Dinge beibehalten oder meine Mama in Erinnerung behalten zu wollen, wie sie immer war. Und ich habe gelernt, dass es ganz normal ist, traurig zu sein. Denn es ist auch einfach traurig. Die Traurigkeit kam in bestimmten Situationen. Etwa, wenn Freundinnen von ihren Eltern sprachen und mir klar wurde, das oder jenes mit meiner Mama nicht mehr ging. Das waren schwierige Momente.
Wie bekamen Sie Abstand?
Ich bin entspannter geworden mit vielen Dingen, weil es letztlich nichts gebracht hat, sich aufzuregen. Ich muss mir das aber selbst immer wieder sagen. Und ich habe gelernt wertzuschätzen, was ich geleistet habe. Ich habe alles so gut gemacht, wie ich konnte. Fehler gehörten ganz klar dazu und es ist okay, wenn es nicht perfekt ist. Ich versuche so oft wie möglich, in der Natur zu sein und gehe regelmäßig joggen. Das hilft mir, um selbst Kraft zu schöpfen. Verbindungen zu anderen Menschen helfen mir auch dabei. Meinen Gedanken in Ruhe nachhängen zu können. Zeit für mich zu bekommen.
Nach all den Jahren: Was ist geblieben?
Ich erinnere mich, dass ich zu Beginn große Angst hatte, dass Mama mich vergisst und vielleicht nicht mehr erkennt. Ich weiß nicht, ob sie mich bis zum Schluss erkannt hat. Vermutlich nicht. Meinen Namen hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gesagt. Aber ich habe dann irgendwann gemerkt, dass diese Angst verschwunden ist. Denn diese Verbundenheit und Zuneigung zu meiner Mama, die sind geblieben. Für mich war sie immer meine Mama. Klar, war es traurig, aber irgendwie zeigte es mir auch, dass Liebe bedingungslos sein kann – auch, wenn das hochgegriffen ist. Dass ein Mensch einem total wichtig ist und man für ihn da sein möchte. Das bleibt.