Digitale Anwendungen eignen sich für nahezu alle diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten in der Psychiatrie und Psychotherapie. Die Erfahrung in der Praxis zeigt, dass sich der Kontakt zwischen Betroffenen und Behandelnden verbessern und die Abbrecherquote sinken kann.
Die Nachfrage nach psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung wächst, doch das Angebot hält nicht mit. Psychisch erkrankte Menschen warten teilweise monatelang auf Therapieplätze, selbst Einzeltermine sind kaum zu bekommen. Einsamkeit, Isolation und Ängste, unter denen viele in der Pandemie leiden, haben die Situation weiter verschärft. Doch zumindest in einem Punkt hat die Pandemie auch etwas Gutes: Sie hat die digitalen Anwendungen in der Psychiatrie und der Psychotherapie ein gutes Stück weitergebracht. Zu diesem Schluss kommt Prof. Dr. Georg Juckel, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin am LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum.
Studienprojekt "Tell us!"
Prof. Juckel sagt:
Auch Bewegungstherapien sind digital möglich
Für ihn ist nicht erst seit diesen positiven Erfahrungen der jüngsten Zeit klar, dass sich digitale Anwendungen hervorragend zur Behandlung von psychisch Erkrankten eignen. Juckel sieht dafür kaum Grenzen: Bis auf die Behandlung von Demenzkranken oder intelligenzgeminderten Personen seien nahezu alle diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten seines Fachgebiets ins Digitale übertragbar. Das gilt für einzel- und gruppentherapeutische Angebote ebenso wie für Bewegungstherapien, beispielsweise Gymnastik oder Yoga. Und für immer mehr spezifische Behandlungsmethoden: Angststörungen kann man etwa mit Virtual-Reality-Anwendungen gut therapieren. Sich mit einer Patientin oder einem Patienten per Video, Messenger oder am Telefon abzustimmen, sei mehr als eine Ersatzlösung. Diese Form der Kommunikation eigne sich insbesondere für eine Langzeitversorgung derjenigen, die nicht in die Klinik kommen könnten. Die Betroffenen sparen Zeit für die An- und Abreise und bekommen schneller Hilfe. Auch wenn beispielsweise auf dem Bildschirm nicht die gesamte Information transportiert werden kann, sei laut Juckel eines entscheidend:
Digitale Anwendungen werden sich durchsetzen
Doch wohin geht die Reise bei den digitalen Anwendungen in Psychiatrie und Psychotherapie. Werden sie die Therapielandschaft für immer verändern? Für diffizilere Diagnosen wie Traumata oder bei Missbrauch, also immer dort, wo es um hohe Vertraulichkeit und direkten emotionalen Kontakt geht, mögen sich Messenger, Chat und Videotelefonie nicht eignen, räumt Juckel ein. Doch für einen großen Teil der Fälle werden sich die digitalen Anwendungen in seinem Fachgebiet durchsetzen – das steht für ihn außer Frage. Grundlage dafür blieben aber dennoch das persönliche Erstgespräch und regelmäßige persönliche Termine in der Praxis oder der Klinik. Allerdings in größeren zeitlichen Abständen als bisher. Prof. Juckel stellt klar:
Für die Zukunft wünscht er sich mehr situative Möglichkeiten. Noch seien die existierenden Anwendungen eng an Termine geknüpft. In Zukunft sollten auch Notfallkontakte möglich sein. „Wenn Patientinnen und Patienten am Wochenende zu Hause in Not geraten, rufen sie heute die Telefonseelsorge an oder werden mit Blaulicht in die Klinik gebracht. Hier wäre ein digitaler Notfallalarm besser, der in der App ausgelöst werden kann und auf den wir in der Klinik sofort reagieren können“, erklärt Juckel. Auch ließen sich die Möglichkeiten der digitalen Zusammenarbeit bei der Gruppentherapie noch weiter verbessern. Eine Erweiterung der selbstständigen Mitarbeit der Erkrankten über Skalen und Selbstbeurteilungen wäre ebenfalls wünschenswert.
Kontakt und Zuwendung funktionieren digital sehr gut
Schon heute zeigen sich in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxis eindeutige Vorteile der digitalen Anwendungen. Die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten sowie die klinische Wirksamkeit seien mit einer klassischen Behandlung im direkten Kontakt vergleichbar. Das habe eine Prüfung des „Tell us!“-Angebots ergeben, sagt Juckel. Der engere digitale Kontakt führe sogar zu einer deutlich geringeren Abbrecherquote bei den Therapieangeboten. Das Verhältnis zwischen Betroffenen und Behandelnden profitiere davon, sogar die stationäre Aufnahme ließe sich reduzieren.
Für Prof. Juckel ist dieser durchweg positive Blick auf die digitalen Anwendungen in seinem Fachgebiet nicht überraschend: