Fast 20.000 Menschen haben sich in Deutschland bereits zu Ersthelferinnen und Ersthelfern für psychische Gesundheit ausbilden lassen. Nach internationalem Vorbild vermittelt das Programm „MHFA Ersthelfer“ das entsprechende Wissen an Laien. Auch Vitos Rheingau bietet diese Kurse an. Wozu dienen sie und was lernt man darin?
Der nette Herr S. hat sich verändert. In letzter Zeit kann er sich nicht mehr gut konzentrieren, auf Kritik reagiert er gereizt, ihm steht öfter der Schweiß auf der Stirn und ab und zu riecht er nach Schnaps. Seine Kolleginnen und Kollegen machen sich Sorgen, dass er vielleicht ein Alkoholproblem hat. Aber wie es ansprechen? Die früher so lebensfrohe Frau M. zieht sich seit einigen Wochen immer stärker zurück, sie hat keine Lust mehr, mit ihrer Familie etwas zu unternehmen. Wenn ihr Mann fragt, was sie denn hat, sagt sie nur: „Es ist nichts.“ Dabei bahnt sich vermutlich eine Depression an. Und ihr Partner weiß nur nicht, wie er mit ihr darüber reden und sie zu einem Arztbesuch zu ermutigen soll. In „MHFA-Ersthelferkursen für psychische Gesundheit “ wird genau das vermittelt. MHFA ist die internationale Abkürzung für „Mental Health First Aid“, auf Deutsch: „Erste Hilfe für psychische Gesundheit“.
MHFA-Kurse reduzieren Unsicherheit
„Die Kurse können dazu beitragen, Unsicherheiten zu nehmen und zu entstigmatisieren“, sagt Dr. Nora Görg, Psychologische Psychotherapeutin bei Vitos Rheingau, Stabsstelle E-Health und digitale Teilhabe. Gemeinsam mit Dr. Julia Reiff, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie stellvertretende Klinikdirektorin der Vitos-Klinik Eichberg, bildet sie seit April 2022 Ersthelfer und Ersthelferinnen aus. Dazu haben sich beide nach der Teilnahme an einem „MHFA Ersthelfer-Kurs“ zur „MHFA Ersthelfer-Instruktorin“ weitergebildet.
Angemessen helfen bei psychischen Problemen
Das Vorbild für diese besondere Form der Ersten Hilfe stammt aus Australien: Im Jahr 2000 entwickelten eine Krankenschwester und ein Medizinprofessor dort einen solchen Lehrgang. Er sollte Laien in die Lage versetzen, angemessen zu helfen, wenn sie bei nahestehenden Menschen psychische Probleme bemerken oder in ihrer Umgebung einen seelischen Notfall erkennen. In 26 Ländern gibt es inzwischen entsprechende Angebote. Seit 2019 kann man sich auch in Deutschland mit dem gemeinnützigen Programm „MHFA Ersthelfer“ zum gleichnamigen „MHFA Ersthelfer“ ausbilden lassen. Von Dezember 2020 bis Mitte 2023 haben dies bereits 18.192 Menschen erfolgreich getan. Träger des Projekts ist das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, zusammen mit der Beisheim Stiftung. Ihr Ziel: Jeder Mensch soll Erste Hilfe für psychische Gesundheit leisten können. Vorwissen ist daher für den Kurs nicht erforderlich.
Bei Sorgen handeln statt zögern
Aber warum ist Erste Hilfe für die Psyche so wichtig? „Psychische Erkrankungen sind leider immer noch in hohem Maße stigmatisiert“, erläutert Julia Reiff, „dadurch halten sich falsche Annahmen und Befürchtungen, die davon abhalten können, sich als Betroffener die notwendige Hilfe zu besorgen.“ Umso wichtiger ist es dann, dass Angehörige nicht zu lange zögern und ihre Liebsten darauf ansprechen, welche Veränderungen sie wahrnehmen. Ohne Vorwürfe zu machen, sondern mit dem Hinweis, dass sie sich sorgen. So entschließt sich der eine oder die andere vielleicht eher, einen Arzt oder eine Therapeutin aufzusuchen. „Durch Aufklärung, Beratung und Information kann man manchmal tatsächlich verhindern, dass eine Erkrankung entsteht“, so die Psychiaterin. „Aus einer Panikattacke muss sich nicht unbedingt eine Angststörung entwickeln. Die MHFA-Kurse leisten hier wichtige Präventionsarbeit.“ Von „Frühintervention“ spricht Lisa Naab, Psychologische Psychotherapeutin und Pressekoordinatorin beim Programm „MHFA Ersthelfer“ am ZI.
Schwer zu erkennen, aber häufig: psychische Erkrankungen
Erste-Hilfe-Kurse für körperliche Notfälle kennt fast jeder – zumindest, wer einen Führerschein besitzt. Auch Auffrischungskurse sind jederzeit problemlos zu belegen. Für seelische Notlagen gab es lange: gar nichts. Dabei sind psychische Erkrankungen allgegenwärtig, mehr als jede vierte Person in Deutschland leidet innerhalb eines Jahres daran. Die Symptome sind jedoch nicht so leicht zu erkennen wie ein gebrochener Arm. Zudem treten sie meist nur für Außenstehende plötzlich auf. Kolleginnen, Freunde und Familienmitglieder nehmen sie in der Regel schleichend wahr: Jemand kann seinen Alltag nicht mehr wie gewohnt bewältigen, scheint die Freude am Leben verloren zu haben, ist nicht mehr die oder der „Alte“. Was dann sagen, wenn man es bemerkt? Wie dem anderen nicht zu nahetreten und möglicherweise auf Abwehr stoßen?
Grundwissen über Erkrankungen als Basis
Der Erste-Hilfe-Kurs will Teilnehmende bekräftigen, sich in solchen Situationen sicherer zu fühlen. In dem zwölfstündigen Präsenz- oder Onlineprogramm erwerben sie zunächst ein Grundwissen über häufige psychische Störungen und wesentliche Symptome von Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen oder Psychosen. Hinzu kommen praktische Übungen, teils mit Rollenspielen. Sie vermitteln Antworten auf Fragen wie: Was kann ich tun, wenn ein nahestehender Mensch womöglich Computersucht entwickelt? Wie spreche ich jemanden an, der offensichtlich Hilfe braucht? Wie geht es dann weiter, wo gibt es medizinische und therapeutische Hilfe oder Selbsthilfegruppen, etwa auch für Angehörige? Und wie steht man jemandem bei, der gerade in der S-Bahn eine Panikattacke erlebt? Denn tatsächlich können auch akute psychische Notfälle auftreten. Wie bei Unfällen oder anderen
Notfällen gilt dann immer: Vorrang hat, sich selbst zu schützen. Hört jemand aufgrund einer Psychose Stimmen, steht er oder sie unter dem Einfluss von Drogen oder droht, sich das Leben zu nehmen? Dann kann es besser sein, im Zweifelsfall lieber die Polizei oder Rettungskräfte zu rufen – und auf diese Weise Erste Hilfe zu leisten.
Die Grenzen der Ersten Hilfe
Erste Hilfe bei psychischen Notlagen dient auch dem Zweck, vorzubeugen, statt langwierig zu therapieren. Je früher gehandelt wird, desto besser sind die Heilungschancen. Hat sich eine psychische Störung erst chronifiziert, ist die Behandlung meist komplizierter. Ersthelferinnen und Ersthelfer können da wertvolle Impulsgeber sein – mehr aber auch nicht. „Wir bilden Menschen zu Ersthelfenden aus, nicht zu Hobbypsychologen oder -psychiaterinnen“, sagt Julia Reiff über die Grenzen der Ausbildung: „Mit den erlernten Techniken und Maßnahmen überbrückt man die Zeit, bis ein medizinischer Profi übernimmt.“ Nora Görg fügt hinzu: „Ich kann als Freundin unterstützend zur Seite stehen, Schritte mitgehen und helfen, Hilfe in Anspruch zu nehmen.“ Leidet jemand etwa bereits an einer schweren Depression, kann das bedeuten, dies überhaupt einmal anzusprechen. Und das Gegenüber dann – mit seinem oder ihrem Einverständnis – zu einem Arzttermin zu begleiten.