Grenzen setzen, Ängste realistisch einschätzen und klar kommunizieren: Bei vielen psychischen Erkrankungen müssen Patientinnen und Patienten genau daran arbeiten. Am kbo Isar-Amper-Klinikum München Ost werden sie dabei nicht nur von Menschen unterstützt – sondern auch von Pferden. Was bewirkt die „Pferdgestützte Gruppenpsychotherapie“?
Am liebsten wäre er morgens im Bett geblieben. Und auf Station, wo er wegen seiner schweren Depression behandelt wird. Kein Elan, kein Antrieb. „Reittherapie“, was soll das bringen? Aber dann schafft er es doch, aufzustehen und mitzukommen zum Reitstall in Parsdorf, keine zehn Minuten mit dem Bus entfernt vom kbo Isar-Amper-Klinikum München-Ost in Haar. Und als er später eines der Therapiepferde striegelt, den warmen Pferdeatem an seiner Hand spürt, wird Peter Meierhof, der eigentlich anders heißt, plötzlich klar, dass es ihm guttut, aktiv geworden zu sein.
Reittherapie als erfolgreiche Therapieergänzung
„Eine solche Erfahrung nimmt ein Patient, eine Patientin mit und kann sich daran erinnern, wenn er oder sie wieder einmal denkt, keine Kraft für etwas zu haben“, sagen die Psychotherapeutin Vanessa März und die Psychologin Lisa Axenbeck. Beide sind zusätzlich als Reittherapeutinnen ausgebildet. Ihre „Pferdegestützte Gruppenpsychotherapie“ hat eine lange Tradition in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie: Seit 1988 schon ergänzt sie das therapeutische Angebot für Patientinnen und Patienten, die etwa wegen einer depressiven Störung, Angsterkrankung, Psychose oder Persönlichkeitsstörung dort behandelt werden. Studien zeigen: Gerade diese Form der „tiergestützten Therapie“ kann erfolgreich dazu beitragen, dass Menschen mit den verschiedensten psychischen Erkrankungen neues Selbstvertrauen gewinnen, sich wieder eine Tagesstruktur aufbauen und die Zügel im eigenen Leben schließlich wieder in die Hand nehmen.
Was sagt die Angst vorm Pferd aus?
Dienstagmorgen, 8.30 Uhr. Der Bus steht bereit, um eine kleine Gruppe mit acht Patientinnen und Patienten zu ihrer Therapiestunde mit den drei Pferden Shine On, Chili White und Egor zu fahren. Insgesamt neun Stationen der Klinik beteiligen sich an der Therapieform, an vier Tagen in der Woche, sommers wie winters, bei jedem Wetter. „Oft kennen sich die Patientinnen und Patienten nicht“, sagt Lisa Axenbeck, „allein das kann schon herausfordernd sein.“ Im Vorgespräch zeigt sich, dass einige auch Angst haben vor der Westfalenstute, dem jungen Wallach und dem schweren Warmblut. Im Stall weichen sie zurück, als die Pferde von den beiden Therapeutinnen aus den Boxen geführt werden. „In dieser Situation unterstützen wir die Patientinnen und Patienten dabei, einen Realitätscheck durchzuführen“, erklärt Vanessa März: „Zeigt sich hier eine gesunde Angst, die sie vor einer reellen Gefahr beschützen will, oder beruht die Angst auf katastrophisierenden Gedanken?“ Also Gedanken wie ,Das Pferd könnte mich angreifen‘ oder ,Das Pferd könnte mich treten‘.“ „Wir schauen dann gemeinsam, was wirklich gefährlich ist an der Situation“, erläutert Lisa Axenbeck, „dazu fungieren wir auch als Übersetzerinnen für das Verhalten der Pferde.“ Shine On, Chili White und Egor sind aber gerade ganz entspannt, die Unterlippen hängen, die Köpfe sind tief – alles Anzeichen dafür, dass von ihnen gerade keine Gefahr droht. Patientinnen und Patienten können so ihr „Kopfkino“ abgleichen mit dem, was wirklich geschieht. Und sich selbst entspannen.
Umgekehrt erleben sie auch, dass die Pferde auf Gefühle von Angst und Unruhe reagieren: „Pferde sind Herden- und Fluchttiere“, erklärt Vanessa März. „Wittert eines von ihnen Gefahr, steckt es die anderen damit an, das ist für sie überlebenswichtig.“ Sehr nervösen Patientinnen und Patienten gegenüber macht sich etwa Shine On dann groß und blickt aufgeschreckt umher. Sie beruhigt sich aber auch schnell, sobald die Patientinnen und Patienten wieder ruhiger atmen und ihre Angst loslassen können. Das eigene Verhalten von den Pferden gespiegelt zu bekommen, hilft dabei, Klarheit darüber zu gewinnen, was man selbst ausstrahlt. Auch Beziehungsaufbau und -gestaltung lassen sich so neu üben und erfahren. „Das vermittelt Selbstwirksamkeit“, sagt Lisa Axenbeck, „die Teilnehmenden erfahren, dass sie die Reaktion der Tiere beeinflussen können.“
Klare Kommandos helfen – beim Reiten und im Leben
Umso mehr gilt dies, wenn Shine On, Chili White und Egor in der großen Reithalle an einem Strick geführt werden. „Ist jemand nicht so richtig bei der Sache und gibt keine klaren Kommandos, entscheidet das Pferd selbst und bleibt stehen, geht in eine andere Richtung oder fängt an zu spielen“, erklärt Vanessa März. „So merken die Teilnehmenden, dass sie deutlicher sagen und signalisieren müssen, was sie von dem Pferd möchten. Ist man sich sicher und will in eine bestimmte Richtung losgehen, dann folgt das Tier auch.“ Die Erfahrungen in Stall und Reithalle werden im Anschluss an die Arbeit mit den Pferden in der Gruppe noch einmal gemeinsam reflektiert: Wie lassen sie sich auf den Alltag übertragen? Patientinnen und Patienten nehmen viele Erkenntnisse mit. Zum Beispiel wie wichtig es ist, klar zu sagen, was man möchte und was nicht, um ein Ziel zu erreichen – in der Reithalle und im Leben. Oder dass manche Ängste auf negativen Vorstellungen beruhen können und man sie überprüfen sollte, damit sie einen nicht einschränken.
Lisa Axenbeck erklärt:
So hatte eine Patientin mit Shine On gearbeitet. Ihr fiel auf, dass das Pferd nicht gerne Nähe zulässt, was sie selbst sehr gut kannte. In der Reittherapie spürte sie aber, dass sie selbst im Grunde doch gerne mehr Nähe erleben würde. Als ihr dies bewusst wurde, konnte sie sich auch in ihrer Partnerschaft wieder mehr öffnen.
Pferde bewerten nicht
„Anders als Menschen bewerten Pferde zudem nicht“, erläutert Vanessa März einen weiteren Vorzug der pferdegestützten Gruppenpsychotherapie, „die Teilnehmenden fühlen sich angenommen.“ Wird ein Pferd nicht wahrgenommen, zeigt es abwehrendes Verhalten. Wird es hingegen in seinen Bedürfnissen gesehen, reagiert es wieder zugewandt. Die Patientinnen und Patienten erleben auf diese Weise, Grenzen zu setzen oder auch Grenzen gesetzt zu bekommen, ohne dass damit ein Beziehungsabbruch verbunden ist.
Auch das Setting in der Gruppe trägt dazu bei, anderen zu vertrauen, sich vielleicht auch führen zu lassen, während man selbst auf dem Pferderücken sitzt. Die Patientinnen und Patienten geben einander positive Rückmeldungen und lernen voneinander. „Wir führen sie an strukturiertes Arbeiten heran“, ergänzt die Psychotherapeutin, „irgendwann sind sie in der Lage, selbstständig zu arbeiten und vielleicht sogar neue Mitpatientinnen und -patienten anzuleiten.“ Wie beispielsweise ein Mann, der wegen einer sozialen Phobie in der Klinik war – einer starken Angst, sich vor anderen zu blamieren und von ihnen negativ bewertet zu werden. In der Gruppe und mit den Pferden ist es ihm gelungen, seine Angst zu überwinden und sein Talent zu entdecken, anderen etwas beizubringen.