Starke Ängste, kein Antrieb oder zwanghafte Handlungen: Eine psychische Erkrankung stellt an sich schon eine große Herausforderung für Kinder und Jugendliche dar. Um ihnen in dieser Phase möglichst viel Stabilität zu geben, bieten die Vitos Kinder- und Jugendkliniken für psychische Gesundheit in Hessen auch jüngeren Patienten und Patientinnen „Vitos Behandlung Zuhause“ an – je nach Art und Schwere der Erkrankung. Inzwischen therapieren fünf multiprofessionelle Teams in Eltville, Herborn, Kassel, Marburg und Riedstadt psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche in ihrem vertrauten Umfeld.
Lia ist zehn und geht seit wenigen Monaten auf eine neue, weiterführende Schule. Doch der Start war nicht leicht für das Mädchen aus dem hessischen Marburg: Es hat eine Angststörung entwickelt und verlässt kaum noch das Haus. Um Lia, die eigentlich anders heißt, den Weg in einen normalen Alltag zu erleichtern, hat der Kinderpsychiater vorgeschlagen, sie nicht stationär aufzunehmen. Stattdessen wird Lia zuhause behandelt, in ihrer gewohnten Umgebung.
Seit einigen Jahren gibt es bei den psychiatrischen Kliniken von Vitos dieses ambulante Angebot, bei dem ein mobiles Team aus Ärztinnen, Pflegekräften, Sozialarbeitern und Psychologinnen regelmäßig zu psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen nach Hause kommt. In der Regel besucht das Team die Patienten und Patientinnen nicht gemeinsam, sondern im Wechsel, für eine Eins-zu-eins-Betreuung. Heute steht ein Besuch von Lias Ärztin an.
Besuche zu Hause vom multiprofessionellen Team
Dr. Victoria Krohn gehört zum Team von Vitos Behandlung Zuhause Marburg. Für das Treffen mit Lia hat sie ihre Arzttasche wie zu jedem herkömmlichen Hausbesuch gepackt: Blutdruckmessgerät, Stethoskop, Arzneimittel, Unterlagen für die Dokumentation und ihren Laptop. Seit sie Lia zum ersten Mal begegnet ist, hat sie ein gutes Vertrauensverhältnis zu der Zehnjährigen aufgebaut. Bereitwillig berichtet ihr Lia, wie gut sie die Medikamente, die sie seit kurzem einnimmt, verträgt und dass sie sich schon ein wenig besser fühlt. „Ich habe von meiner Kollegin, die gestern bei Dir war, gehört, dass Du nicht so gut schläfst?“, fragt Dr. Krohn dann. Sie möchte herausfinden, ob Lia zusätzlich unter Ein- und Durchschlafstörungen leidet und ob die Zehnjährige zum Beispiel zu viel grübelt.
Ein Gewinn für alle: So profitieren Kinder und ihr Umfeld

Lia freut sich, dass sie trotz ihrer Erkrankung bei ihrer Familie bleiben konnte. Aber auch ihre Eltern sind dankbar für die Möglichkeit, dass ihre Tochter zuhause behandelt wird. Die Behandlung im häuslichen Umfeld gilt als gleichwertige Alternative zu einer stationären Therapie. Die Behandlung der Patienten und Patientinnen ist genauso intensiv wie in einer Klinik, erfolgt allerdings eben im gewohnten Umfeld. Das ist ein Vorteil für einige Patienten und Patientinnen, für die aus verschiedenen Gründen ein Klinikaufenthalt nicht infrage kommt oder zumindest eine große Hürde darstellen würde.
Vor allem Lias Mutter ist anwesend, wenn ein Teammitglied vorbeikommt. Zwar ist sie bei den Gesprächen mit ihrer Tochter nicht dabei, aber Dr. Krohn oder die anderen Teammitglieder besprechen alles direkt im Anschluss im Wohnzimmer nach. Dabei können sie auch thematisieren, was ihnen womöglich in Lias unmittelbarem Umfeld auffällt. Ist die Mutter vielleicht selbst zu vorsichtig und bestärkt Lia sogar in ihren Ängsten? Hört sie Lia nicht einfach nur zu, sondern gibt ständig Ratschläge? „Wir sehen, wo es hakt, und können darauf eingehen“, erklärt Dr. Krohn. Auf Station hingegen würden manche alltäglichen Situationen gar nicht so deutlich werden.
Damit Lia ihre Ängste überwindet und wieder mehr vor die Tür kommt, hat eine Pflegekraft Lia auch schon mal auf einen Spaziergang begleitet. Sie haben verabredet, dass Lia bis zum nächsten Besuch eine Runde allein dreht und dann davon berichtet. Für Lias Rückkehr in die Schule ist geplant, dass anfangs ebenfalls eine Pflegekraft mitkommt, damit die Schülerin wieder mehr Zutrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickelt und erlebt, dass „nichts Schlimmes geschieht“ – das ist eine der Ängste, die sich bei Angststörungen zeigen kann und die auch Lia kennt. „Als Behandler muss man spontan und kreativ sein“, so Dr. Krohn, „jeder Tag ist anders und bringt etwas Neues.“
Auch für die Fachkräfte beruflich spannend
Das macht die Arbeit in diesem Behandlungsmodell, das auch „StäB“ oder „Stationsäquivalente Behandlung“ heißt, für alle Mitglieder besonders interessant: Sie tragen mehr Eigenverantwortung und stehen im engen Austausch, untereinander und mit der Stationsleitung, um sich abzustimmen und immer gemeinsam zu entscheiden, welche Unterstützung die jungen Patientinnen und Patienten aktuell benötigen. Die Fahrzeuge, mit denen die Teammitglieder zu den Familien kommen, sind mit keinerlei Schriftzug gekennzeichnet; die Fachkräfte tragen Alltagskleidung, um die Privatsphäre zu wahren.Bei der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit im südhessischen Riedstadt ist „Vitos Behandlung Zuhause“ sogar Teil eines bundesweiten Modellprojekts mit flexiblen Übergängen zwischen verschiedenen Behandlungsformen. Je nachdem, was die jungen Patientinnen und Patienten in verschiedenen Phasen ihrer psychischen Erkrankung benötigen, stehen eine ambulante, tagesklinische, stationäre oder eben häusliche Behandlung (auch Hometreatment genannt) zur Verfügung.