Zwischen drei und sechs Millionen Kinder in Deutschland wachsen mit einem psychisch erkrankten Elternteil auf. Viele von ihnen leiden deshalb unter mehrfachen Belastungen, insbesondere unter emotionalem Stress durch einen Rollenwechsel sowie emotionale Vernachlässigung, wie Prof. Michael Franz erklärt. Der Psychiater und Ärztliche Direktor des Vitos Klinikums Gießen-Marburg erläutert, wo Angehörige frühzeitig Hilfe bekommen können. Und er fordert, dass die vielfältigen Angebote dafür besser vernetzt sein müssten.
Herr Prof. Franz, was belastet Kinder am meisten, wenn ein Elternteil
psychisch erkrankt?
Die emotionale Belastung steht eindeutig im Vordergrund. Geht es Mutter oder Vater nicht gut, bekommen Kinder grundsätzlich schnell das Gefühl, sie haben etwas falsch gemacht und sind deshalb schuld am Leid der Eltern. Um diese Schuldgefühle loszuwerden, versuchen Kinder sich so zu verhalten, dass es Mutter oder Vater besser geht. Von deren Wohlergehen und Überleben hängt schließlich das eigene ab. Dazu übernehmen sie häufig auch die Erwachsenenrolle, indem sie sich um Mutter oder Vater sowie etwa um jüngere Geschwister oder den Haushalt kümmern. Wir nennen diese Rollenumkehr ,Parentifizierung‘ und es wäre wichtig, Kinder davor zu schützen. Zumindest vor einem zu starken Ausmaß.
Was bedeutet ,Parentifizierung‘ für das Leben der Kinder?
Das Recht auf eigene Bedürfnisse wird nicht mehr wahrgenommen, Selbstfürsorge kann nicht gelernt und gelebt werden. Solche Kinder nehmen sich eher zurück, sie leiden still und ihre Not fällt lange nicht auf. Im Extremfall machen diese Kinder irgendwann keine Hausausgaben mehr oder gehen nicht mehr in die Schule, weil sie versuchen, den Alltag zuhause zu meistern. Daraus ergeben sich häufig nicht nur Verzögerungen der Entwicklung, solche Kinder haben auch ein höheres Risiko noch während der Kindheit, als Jugendliche oder später als Erwachsene selbst zu erkranken: an einer Depression, an einer Angststörung, an einer sozialen Phobie, aber etwa auch an einer Borderline- oder einer Traumafolgestörung.
Wie kommt es zu einer Traumafolgestörung?
Eine unserer Studien hat gezeigt, dass eine größere Gruppe von Kindern psychisch kranker Eltern Traumata erlitten hat: ein kleinerer Teil durch sexuellen Missbrauch, durch körperliche Gewalt etwa bei Suchterkrankungen wie Alkoholismus oder Psychosen etwa bei einer Schizophrenie, vor allem aber durch emotionale Vernachlässigung und emotionalen Missbrauch. Dazu kommt es etwa, wenn ein Kind vollends die Elternrolle übernimmt, obwohl das für sein Alter völlig unpassend ist. Oder die Mutter aufgrund einer schweren Depression versucht, sich das Leben zu nehmen – und das Kind nachts im Bett wachliegt und lauscht, ob die Treppe knarrt, weil die Mutter sich wieder aufs Dach schleicht.
Können auch körperliche Erkrankungen die Folge sein?
Parentifizierung bedeutet Dauerstress, der im Körper zu erhöhten Entzündungswerten führt. Deshalb können neben psychischen Störungen später im Leben auch Stressfolgeerkrankungen auftreten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Rheuma, außerdem chronische Schmerzen in Verbindung mit somatoformen Störungen: Das sind körperliche Beschwerden, für die sich keine organischen Ursachen finden lassen.
Gibt es neben der emotionalen Belastung noch weitere Faktoren?
Kinder psychisch erkrankter Eltern sind in mehreren Dimensionen belastet. Oft haben sie eine genetische Disposition, ebenfalls psychisch zu erkranken – wobei die Vulnerabilität vererbt wird, nicht die Erkrankung selbst. Als Sollbruchstelle wird sie aber umso wahrscheinlicher, je mehr die Kinder unter der Erkrankung eines Elternteils leiden. Hinzu kommen zusätzlich Tabuisierung und Stigmatisierung. In betroffenen Familien wird häufig nicht oder nicht angemessen über die Erkrankung gesprochen. Kinder haben dadurch das Gefühl, bei ihnen zuhause stimmt etwas nicht, mit ihnen selbst stimmt etwas nicht, aber sie verstehen nicht, was los ist. Das führt zu noch mehr Scham, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Gleichzeitig erleben sie, dass Schulkameraden nicht mehr zu ihnen nach Hause kommen oder die Familie beim Bäcker nicht mehr bedient wird. Studien zeigen, dass die Stigmatisierung aufgrund psychischer Erkrankungen wieder zunimmt. Die Kinderkommission des Deutschen Bundestages geht aktuell davon aus, dass zwischen drei und sechs Millionen Minderjährige in einer Familie mit einem psychisch erkrankten Elternteil leben.
Wie sprechen Eltern am besten mit ihren Kindern über eine psychische Erkrankung?
Ideal wäre es, wenn der gesunde Elternteil sich zunächst Hilfe etwa in einer Angehörigen- oder Selbsthilfegruppe sucht und so selbst zum Experten für die Erkrankung wird. Bewährt hat sich dann, eine psychische Erkrankung analog zu einer somatischen Erkrankung zu erklären, die Kinder selbst schon einmal hatten und die geheilt ist. Etwa ein gebrochenes Bein. Dann kann man sagen: ,Mama oder Papa ist am Kopf erkrankt und das muss auch im Krankenhaus behandelt werden.‘ Das verstehen schon acht- bis zehnjährige Kinder, und damit können sie sich davon distanzieren. Häufig ist so eine Erklärung ein Wendepunkt in ihrem Leben, weil sich plötzlich aus dem, was sie erleben, ein Sinn ergibt.
Sinnhaftigkeit sorgt für Verstehen?
Ja, zumal, wenn Kindern klar wird: Psychische Krankheiten sind häufig, so etwas kann passieren. Zweitens: In der Regel verläuft die jeweilige Krankheit in Phasen und welche sind das. Drittens: Es hat nichts mit meinem eigenen Verhalten zu tun. Viertens: Wenn ich nicht für mich sorge und Grenzen setze, dann hilft das niemanden. Fünftens: Wie kann ich mit schwierigen Gefühlen besser umgehen? In der sogenannten Psychoedukation und in Programmen zur Unterstützung solcher Kinder wird erklärt, dass Kinder etwa Schuld empfinden, sie aber nicht dieses Gefühl sind und es im Übrigen auch nicht stimmen muss. Das entlastet. Eine unserer Studien zur Prävention hat kürzlich gezeigt, dass all diese Maßnahmen dauerhaft erfolgreich sein können.
Wie bekommen Kinder diese Hilfe und Unterstützung?
Traurigerweise wird in vielen psychiatrischen Kliniken ein solches Programm nicht angeboten. Es wird nicht einmal danach gefragt, wie es Kindern eines Patienten aktuell geht, der stationär aufgenommen wird. Personalmangel und Zeitknappheit verstärken dieses Problem. So werden Kinder und ihre Not oft lange übersehen, zumal sie häufig überangepasst sind und unauffällig agieren. Erst, wenn Kinder gewalttätig anderen gegenüber werden, sich selbst gefährden oder durch massives Fehlen oder Zurückgezogenheit auffallen, bekommen sie selbst Hilfe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder durch das Jugendamt. Aber all das müsste viel frühzeitiger geschehen, die Verbindung zwischen Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfe müsste viel enger sein. Denn bei einer späten Intervention steht häufig im Raum, die Kinder von den Eltern zu trennen, was beide Seiten, trotz allen Leids, meist nicht wollen. Vor allem die Loyalität der Kinder gegenüber den Eltern ist unermesslich groß, und eine Trennung kann immer zusätzlich traumatisieren.
Was kann ein gesunder Elternteil, bei aller Belastung, die er selbst erlebt, also tun?
Angehörigenverbände und Selbsthilfegruppen leisten hier viel Unterstützung. Die Initiative ,Stark im Sturm‘ hat es sich zur Aufgabe gemacht, erkrankte Eltern bereits in psychiatrischen Kliniken mit für sie und ihre Kinder passenden Hilfsangeboten in Kontakt zu bringen. Wir haben in Deutschland zudem einen Rechtsanspruch auf erzieherische Hilfen, Leistungen und Angebote – und die Fachberatung ist vertraulich. Das wissen viele nicht. Auch muss man sich beim Jugendamt oder bei kommunalen Stellen vor Ort danach erkundigen, was vielen in dieser Ausnahmesituation doppelt schwerfällt. Zudem bestehen viele Angebote parallel oder zumindest inhaltlich überlappend, sind aber oft untereinander nicht koordiniert: Es gibt etwa die Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder psychisch erkrankter Eltern, Erziehungs- und Suchtberatungsstellen,
Psychotherapeuten für Kinder und Erwachsene, sozialpädagogische Zentren, den Sozialpsychiatrischen Dienst in einer Stadt oder Gemeinde, Krisendienste, Familienbildungsstätten, die ,Frühen Hilfen‘ für Familien mit Kindern bis zu drei Jahren, Schulpsychologen, Kinderschutzbund und lokale Initiativen verschiedener Träger zur Unterstützung. Der Dachverband Gemeindepsychiatrie hat 2023 mit OBEON eine Beratungsplattform ins Leben gerufen, die in seelischen Belastungssituationen online Unterstützung anbietet und bei dem auch Angehörige ehrenamtlich im Expertenteam mitarbeiten. Die Ehlerding-Stiftung etwa vermittelt in Hamburg, Bremerhaven und Bremen Paten an Kinder, die in schwierigen Familienverhältnissen aufwachsen – damit es endlich einmal um die Bedürfnisse dieser Kinder geht. Und sei es, einen unbeschwerten Nachmittag mit einer fürsorglichen und sie unterstützenden Bezugsperson zu erleben.
Sind Sie selbst betroffen oder suchen allgemein Rat? Hier finden Sie verschiedene im Text genannte Anlaufstellen:
Informationen, Fortbildungen und Links zu Selbsthilfegruppen für Menschen mit psychisch erkrankten Angehörigen finden Sie beim Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e. V. (BApK) und bei der Bundesarbeitsgemeinschaft psychisch erkrankter Eltern. Anlaufstellen können auch die Landesverbände des BApK sein.
Was können Selbsthilfegruppen leisten für psychisch erkrankte Menschen und deren Angehörige? Wie funktionieren sie? Informationen dazu finden Sie unter www.psychisch-erkrankt.de/hilfe/selbsthilfegruppen/
Die Initiative “Stark im Sturm” unterstützt dabei, Hilfsangebote für psychisch erkrankte Eltern und ihre Kinder zu finden.
Familien mit Kindern bis drei Jahre finden besonders in belasteten Lebenslagen Unterstützung bei den Frühen Hilfen.
Die Orientierungshilfe und Beratung Online in seelischen Belastungssituationen (OBEON) berät psychisch belastete oder erkrankte Menschen beispielsweise per Mail oder per Video, bietet aber auch einen Sofort-Chat an.
Kinder brauchen Bezugspersonen und schöne Erlebnisse, gerade in belastenden Lebenslagen. Das ermöglichen ihnen in Bremen, Bremerhaven und Hamburg ehrenamtliche Paten und Patinnen. Hier finden Sie mehr Informationen über die mitKids Aktivpatenschaften.