
Zu viel Druck in der Schule, familiäre Konflikte und gesellschaftliche Erwartungen, die belasten: 72 Prozent aller jungen Menschen in Deutschland schätzen ihr aktuelles emotionales Wohlbefinden als negativ ein. Welche Rolle das Gefühl von Ohnmacht dabei spielt und welche Lösungsansätze Jugendliche selbst vorschlagen, erfahren Sie hier.
„Viele Kinder und Jugendliche sind verunsichert und machen sich Sorgen um die Zukunft. Deswegen ist es umso wichtiger, ihnen Mut zu machen und sie in ihrer seelischen Gesundheit zu stärken“, sagt Dr. Anne Kaman und ergänzt: "Genau da müssen wir als Gesellschaft ansetzen." Die Gesundheitswissenschaftlerin arbeitet als stellvertretende Leitung der Forschungssektion „Child Public Health“ am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und spricht bei der Auftaktveranstaltung der 19. „Woche der Seelischen Gesundheit“ am 10. Oktober, der als Live-Stream auch bei Youtube geteilt wird. Was aber sagen die Jugendlichen selbst? Wie geht es ihnen psychisch und welche Veränderungen wünschen sie sich? Das hat der YEP-Jugendbericht 2025 zum Thema mentale Gesundheit ermittelt, den das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit auf seiner Website verlinkt. Das Ergebnis ist ernüchternd und sieht dringenden Handlungsbedarf.
Was junge Menschen mental belastet
72 Prozent aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland im Alter von 14 bis 25 Jahren beschreiben ihr „aktuelles emotionales Wohlbefinden“ als „negativ“. Jedem und jeder Vierten gehe es sogar „wirklich schlecht“: Sie litten unter häufig negativen Gedanken und fühlten sich unwohl. Die Organisation Youth Empowerment & Participation (YEP) hat mehr als 5500 junge Menschen in Deutschland und Österreich zu ihrer seelischen Verfassung befragt; im Nachbarland nannte knapp die Hälfte der Teilnehmenden ihr aktuelles emotionales Wohlbefinden „negativ“. In beiden Ländern fühlen sich viele Jugendliche nicht ernstgenommen, wenn sie über ihre mentale Gesundheit sprechen; 40 Prozent thematisieren seelische Schwierigkeiten erst gar nicht. Ein Grund: 30 Prozent der deutschen Jugendlichen und 24 Prozent der österreichischen Jugendlichen fehlt ein Mensch, dem sie sich anvertrauen können.
Schulischer Leistungsdruck, familiäre Konflikte und gesellschaftliche Erwartungen werden als zentrale Stressfaktoren genannt. Was nahezu alle Befragten darüber hinaus verbindet: Sie fühlen sich in ihrem Alltag oft oder zumindest manchmal ohnmächtig (in Deutschland 9 von 10, in Österreich 8 von 10). Wie YEP berichtet, bestehe ein „starker Zusammenhang zwischen dem Gefühl von Ohnmacht und der Einschätzung der mentalen Gesundheit: Je stärker Jugendliche das Gefühl von Ohnmacht empfinden, desto schlechter geht es ihnen.“ Das überrascht nicht. In seinem Modell der „Salutogenese“ beschrieb der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky schon in siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, wie Menschen trotz Belastungen körperlich und seelisch gesund bleiben. Dazu gehöre das sogenannte Kohärenzgefühl: die Überzeugung, Ereignisse im Leben meistern zu können. Ein modernerer Begriff dafür ist Selbstwirksamkeit. Die Ergebnisse des Jugendberichts zur Mental Health zeigen, dass genau dies vielen jungen Menschen heute fehlt. Umso wichtiger seien Maßnahmen zur Stärkung der Selbstwirksamkeit von Jugendlichen, schlussfolgert YEP, sodass die jungen Menschen „das Vertrauen in ihre eigene Handlungsfähigkeit zurückgewinnen und dadurch ihre mentale Gesundheit fördern können“.
Was Jugendliche für mentale Gesundheit fordern
Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurden aber nicht nur nach ihrer seelischen Befindlichkeit gefragt, sondern auch nach konkreten Lösungsvorschlägen. Sie selbst erachten drei Themen als am wichtigsten: Selbstvertrauen aufbauen zu können, den Umgang mit Gefühlen zu erlernen sowie Strategien zur Stressbewältigung und Entspannung:
- 82 Prozent der Befragten wünschen sich allgemein mehr Informationen zum Thema mentale Gesundheit.
- Derzeit wenden sich 63 Prozent dazu an die Sozialen Medien, was jedoch das Risiko birgt, nicht nur verlässliche Auskünfte zu erhalten.
- Gerade einmal 17 Prozent der jungen Menschen haben angegeben, in der Schule Inhalte zu psychischer Gesundheit zu bekommen; tatsächlich würden gerne 66 Prozent dort entsprechend unterrichtet werden.
- Mehr als 40 Prozent der Jugendlichen in Deutschland wünschen sich explizit, generell mehr über psychische Gesundheit, Krankheit und den Umgang mit Menschen mit psychischen Problemen zu erfahren.
- Befürwortet wird eine stärkere Präsenz von Sozialarbeitern und Schulpsychologen, die bei psychischen Problemen jederzeit angesprochen werden können. Auch Workshops und Kurse an der Schule sowie Möglichkeiten für soziales Engagement und gemeinsame Freizeitaktivitäten wurden genannt, um mentale Gesundheit zu erhalten und psychischen Erkrankungen vorzubeugen.

Neben Verbesserungen im Schulsystem haben die Jugendlichen noch weitere konkrete Hinweise. 97 Prozent kritisieren, dass Hilfsangebote nicht leicht zugänglich seien. Als Hindernisse gelten länderübergreifend lange Wartezeiten auf Therapieplätze, fehlender Mut, die weiterhin bestehende Tabuisierung von psychischen Schwierigkeiten, mangelndes Verständnis bei Eltern und „allgemeine Unsicherheit“: Man wisse nicht, was auf einen zukomme, wenn man ein entsprechendes Angebot nutze.
Auf der Forderungsliste ganz oben steht neben dem Aufruf, Ohnmachtsempfinden als Bedrohung wahrzunehmen und Selbstwirksamkeit zu fördern, „Stress im Schulalltag zu reduzieren“. Ein Teilnehmender wird mit den Worten zitiert: „Ich würde gern länger Kind sein dürfen - mehr Pausen, mehr Freizeit, mehr Zeit, dass ich rausfinde, was ich eigentlich will.“ Dazu passt, die Jugend als Entwicklungsphase anzuerkennen: „Jugendliche brauchen Freiräume zur persönlichen Entwicklung. Der zunehmende Leistungsdruck verdrängt Erholungsphasen, soziale Interaktion und kreative Entfaltung.“ Neben einer großen öffentlichen Kampagne zur Enttabuisierung von mentaler Gesundheit sprechen sich die jungen Menschen auch aus für eine zentrale, leicht zugängliche und mehrsprachige Website für die Zielgruppe Jugend, die alle Hilfsangebote bündelt und auch Angaben etwa zu Kosten und Ablauf enthält. Um den Dschungel der bereits vielfältig vorhandenen Hilfsangebote besser zu durchdringen und nutzbar zu machen, wird eine solche zentrale Plattform schon lange auch für Erwachsene gefordert.
Im Oktober 2025: 19. Woche der Seelischen Gesundheit
Fühlen Sie sich seelisch belastet, haben Sie Suizidgedanken? Hilfe finden Sie rund um die Uhr bei der anonymen Telefonseelsorge unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.
Kinder und Jugendliche können sich unter 116 111 an die „Nummer gegen Kummer“ wenden.