In dem Spielfilm Manchester by the Sea begegnet der grüblerische Einzelgänger Lee zufällig seiner Ex-Frau Randi auf der Straße. Die drei gemeinsamen Kinder kamen bei einem tragischen Hausbrand ums Leben, und Randi versucht ein Gespräch mit Lee zu beginnen. Doch Lee weicht aus. „Ich komm nicht drüber hinweg“, flüstert er.
Der Verlust von drei Kindern übersteigt das Vorstellungsvermögen vieler Menschen. Randi gelingt es, wieder Fuß zu fassen: Sie hat einen neuen Partner gefunden und erwartet mit ihm ein Kind. Lee hingegen empfindet auch Jahre später kaum Freude. All seine Gedanken kreisen um die toten Kinder – und um die Selbstvorwürfe, die er sich macht, weil er an jenem Abend das Haus verließ, ohne das Feuer im Kamin zu sichern. „Wenn sich das Leben viele Jahre nach dem erlebten Verlust noch immer im Stillstand befindet, könnte das ein Hinweis auf eine anhaltende Trauerstörung (ATS) sein“, sagt die psychologische Psychotherapeutin Janine Hillmann von der hessischen Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn.

Trauer braucht Zeit
Trauer ist eine schmerzhafte, aber auch gesunde Reaktion auf den Verlust eines geliebten Menschen. Sie zeigt, wie wichtig der Verstorbene war – und sie braucht Zeit. Nach und nach durchlaufen die Betroffenen verschiedene Phasen der Trauer, zum Beispiel vom Leugnen des Verlustes über Wut und Vorwürfe hin zur Akzeptanz. Dieser Prozess verläuft nicht zwangsläufig linear, aber in ihm passen sich die Trauernden in ihrem Tempo und auf ihre Weise an die unwiderruflich veränderte Lebenssituation an.
Anders bei der anhaltenden Trauerstörung. Hier vergeht der Schmerz nicht, das Leben bleibt stehen. „Die Menschen mit einer anhaltenden Trauerreaktion haben unbewusst wie auf eine Pausetaste gedrückt“, sagt Hillmann. Kleidung der Verstorbenen hängt unberührt im Schrank, die zuletzt angesehene Zeitung liegt aufgeschlagen auf dem Tisch. Der Alltag wird zur Endlosschleife der Erinnerung – aus Angst, die geliebte Person zu verlieren, wenn man sich weiterbewegt. „Der Schockzustand bleibt gewissermaßen bestehen. So führt die anhaltende Trauerstörung oftmals in soziale Isolation“, so Hillmann.
Wann wird Trauer zur Störung?
Hält ein solcher Zustand mindestens sechs Monate an, sprechen Fachleute von einer anhaltenden Trauerstörung (ATS). Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat sie 2019 als eigene Diagnose in die internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen.
Typische Merkmale sind ständiges Grübeln über den Verstorbenen, tiefe Sehnsucht und ein großer emotionaler Schmerz – Schuldgefühle, Wut, Taubheit oder Gefühl, einen Teil seiner selbst verloren zu haben. „Für eine Diagnose und ebenso für die Behandlung müssen laut aktueller Richtlinien aber nicht alle genannten Merkmale erfüllt sein“, führt Janine Hillmann aus, die in der Vitos Klinik für Psychosomatik Herborn regelmäßig trauernde Menschen psychotherapeutisch begleitet. „Entscheidend sind die Kernsymptome und die Dauer der Trauer. Sich Unterstützung zu holen, kann wichtig sein, auch wenn nur einige dieser Anzeichen zutreffen.“
Was hilft bei anhaltender Trauerstörung?
Eine anhaltende Trauerstörung ist gut behandelbar. Erste Anlaufstellen können die hausärztliche Praxis, psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen oder spezialisierte Trauerbegleitungen sein. In der Therapie kommen unterschiedliche Methoden zum Einsatz – von behutsamen Ansätzen wie Aufklärung oder dem Erstellen einer Lebenslinie bis zu konfrontativeren Verfahren innerhalb einer Verhaltenstherapie wie Expositionstraining oder Notfallplänen für besonders belastende Tage.
Ein zentrales Merkmal der Therapien ist immer eine genau auf die individuellen Bedürfnisse und Grenzen der Betroffenen abgestimmte Behandlung. „Trauer verläuft nicht nach einem festen Drehbuch“, sagt Hillmann. „Aber bleibt der Verlust unverarbeitet, kann es zu Folgeerkrankungen wie Depressionen, psychosomatischen Beschwerden oder auch chronischen Schmerzen kommen.“

Die Kraft des Erinnerns – und des Loslassens
In der Therapie geht es nicht darum, den Verstorbenen zu vergessen, im Gegenteil: Viele Behandlungsansätze setzen bewusst bei der Beziehung zum Verstorbenen an. „Ziel ist es, diese Beziehung in eine innerlich tragbare Form zu bringen – eine Verbindung, die nicht ständig weh tut, sondern vielleicht sogar irgendwann Trost spenden kann“, erklärt Hillmann.
Dazu gehört auch, neue Perspektiven zu entwickeln: Wie kann mein Leben mit dem Schmerz jetzt weitergehen? Welche kleinen Schritte Richtung Zukunft sind ohne Schuldgefühle möglich? Vielleicht ist es ein Spaziergang am Wasser, ein Gespräch mit einem vertrauten Menschen oder der Entschluss, ein verstaubtes Notizbuch wieder in die Hand zu nehmen. Kleine Gesten des Neuanfangs, ohne das Alte zu verdrängen.
Lee bleibt in Manchester by the Sea gefangen in seiner Vergangenheit. Doch das echte Leben kennt auch andere Wege.