2023 erreichten die Fehlzeiten von Beschäftigten aufgrund einer psychischen Erkrankung einen neuen Höchststand. Das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit lädt deshalb vom 10. bis 20. Oktober zu seiner diesjährigen Aktionswoche unter dem Motto „Hand in Hand für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz“: Wie lässt sich vorbeugen, was brauchen Menschen, wenn sie etwa nach einer Depression in den Betrieb zurückkehren?
Das erste Mal hat Laura Baumann niemandem etwas gesagt. Sie hatte gerade die Arbeitsstelle gewechselt und zuvor die Erfahrung gemacht, dass sie von ihren Vorgesetzten gemobbt wurde, als sie Schwäche gezeigt hatte. Also besser den neuen Chefs nicht mitteilen, dass sie an einer schweren Depression erkrankt war – zu Beginn der Coronakrise, plötzlich allein im Homeoffice: „Ich bin ein Herdentier“, sagt die Mittdreißigerin, „dazu das allgemeine Gefühl der Bedrohung, das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen.“ Als sie nach zwei Monaten Psychiatrie und einem weiteren Monat Krankschreibung zu Hause an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, war sie eben einfach wieder da und bekam eine weniger anspruchsvolle Tätigkeit zugewiesen.
Unklare Erwartungen und fehlende Kommunikation
Das war Teil ihrer ersten BEM, ihrer ersten „Betrieblichen Eingliederungsmaßnahme“. Laura Baumann, die eigentlich anders heißt, hatte als Angestellte nach mehr als sechs Wochen Abwesenheit einen gesetzlichen Anspruch darauf. Ihr Arbeitgeber ermöglichte ihr zudem eine stufenweise Wiedereingliederung nach dem Hamburger Modell, zu dem er nicht verpflichtet war: Woche um Woche stieg die Anzahl der Arbeitsstunden und der Anforderungen. In guter Erinnerung hat sie diese Phase trotzdem nicht. „Ja, sie wurde genehmigt, aber wie ich als Mitarbeiterin begleitet werde, welche Art von Gesprächen stattfinden, wer zuständig ist, all das blieb unklar“, erinnert sie sich. Es hieß nur, sie solle erstmal wieder ankommen und sich Zeit lassen.
Statt langer Leine aber hätte sie sich mehr Struktur gewünscht. Denn nach drei Monaten war sie komplett „raus“ aus ihrer Arbeit in einem großen Konzern. „Ich hätte es gebraucht, dass ich einen Ansprechpartner habe, dass ich die Erwartungen an mich kenne, dass ich berichten kann, wie es mir geht, und dass ich einen Überblick darüber bekomme, was sich im Unternehmen verändert hat.“ Sie sprach es aber selbst nicht an, wurde nicht angesprochen und nichts davon geschah von selbst.
Arbeiten in einer Welt mit neuen Anforderungen
„Reden hilft“ ist ein Kernsatz des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit seit seiner Gründung 2006. Seine diesjährige Aktionswoche steht vom 10. bis 20. Oktober 2024 unter dem Motto „Hand in Hand für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz“ und damit ganz im Zeichen von „Psyche und Arbeit“. Bundesweit beteiligen sich daran rund 50 Regionen und Städte mit mehr als 600 Veranstaltungen.
„Uns ist immer wieder signalisiert worden, dass gerade auch in Zeiten einer seelischen Krise das Thema Arbeit für Menschen extrem wichtig ist, weil es Halt gibt, sinnstiftend ist und soziale Teilhabe ermöglicht“, erklärt Prof. Arno Deister, Psychiater und Mitglied des Vorstandes, die Entscheidung für den besonderen Fokus. Denn gleichzeitig wachse der Druck in der Arbeit vor allem durch „Verdichtung“: Immer weniger Menschen müssen im Job immer mehr Aufgaben bewältigen.
Für die veränderten Bedingungen der neuen (Arbeits)Welt gibt es das Akronym VUCA. VUCA steht für
- volatility (Volatilität)
- uncertainty (Ungewissheit)
- complexity (Komplexität)
- ambiguity (Ambiguität)
Die moderne Welt ist also ungewiss, erschwert Vorausplanen, ist nicht immer durchschaubar sowie von hoher Ambiguität, sodass Informationen als mehrdeutig und widersprüchlich erlebt werden. „Das ist gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen eine Herausforderung“, so Prof. Deister. Zugleich könne der gestiegene Druck im Beruf das Entstehen solcher Störungen begünstigen. Umgekehrt könne „gute Arbeit“ seelische Gesundheit fördern.
Das Stigma auflösen und Führungskräfte sensibilisieren
Dem Aktionsbündnis, dessen Träger die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) ist, geht es weniger um politische Forderungen als vielmehr um Aufklärung und Entstigmatisierung. Unternehmen, Mitarbeitende und insbesondere auch Führungskräfte sollen stärker für psychische Belastungen sensibilisiert werden und dafür, wie das Arbeitsumfeld für alle Beteiligten gesund gestaltet werden kann – damit psychische Erkrankungen womöglich gar nicht erst auftreten, schneller erkannt werden und Betroffene nach einer Behandlung und Krankschreibung im Betrieb besser wieder Fuß fassen.
Eine Studie der RWTH Aachen mit Betroffenen und Betriebsärzten zur Wiedereingliederung nach einer Depression hat 2022 gezeigt, wie sehr Wissen über psychische Erkrankungen und offene Kommunikation dazu beitragen können, dass die Rückkehr an den Arbeitsplatz gelingt. Der gelungenen Rückkehr steht hingegen Stigmatisierung durch Kollegen und Kolleginnen am meisten im Weg. Um einem Rückfall vorzubeugen, erwies es sich ebenfalls als zentral, Konflikte mit Vorgesetzten zu klären sowie aktiv von Kollegen, Kolleginnen und Vorgesetzten mit Verständnis und Wertschätzung unterstützt zu werden. Weiterbildungen zur Vorbeugung von psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz gelten als besonders effektiv.
Keine Scheu haben, nachzufragen
„Wenn ich in Unternehmen Vorträge zu diesem Thema halte, sagen mir immer wieder Menschen, dass sie gar nicht daran gedacht hätten, einen Kollegen oder eine Kollegin danach zu fragen, wie es ihm oder ihr geht, und dass man sich Sorgen macht, obwohl man wahrnimmt, dass der andere vielleicht eine Depression entwickelt, eine Angststörung oder etwa eine Alkoholsucht“, sagt Prof. Arno Deister. Zu groß seien immer noch die Vorurteile, die Unsicherheit, was man sagen soll, und die Furcht, jemandem zu nahe zu treten. Dabei würde der andere in der Regel erleichtert reagieren. Eine nationale Notfallnummer für psychische Erkrankungen unter 113, wie schon oft von verschiedenen Verbänden angeregt, könne hier hilfreich sein, weil man sich in einem zweiten Schritt dorthin wenden könnte, um professionelle Hilfe zu erhalten.
Für sich einstehen
Laura Baumann wurde 2023 noch einmal für sechs Wochen krankgeschrieben, als ihre Medikamente neu eingestellt werden mussten. Diesmal sprach sie offen an, um was es ging, und erfuhr durchaus Verständnis. Doch auch ihre zweite BEM verlief wie die erste: Es gab keine Gespräche. Rückblickend stellte sich heraus, warum sie ihren ursprünglichen Job nach der ersten Krankschreibung verloren hatte: „Die Leute wussten nicht, was sie mir zutrauen könnten“, sagt sie, „dabei hätten sie mich nur zu fragen brauchen.“ Denn auch, wenn ein Mensch während einer depressiven Episode nicht leistungsfähig sei, so sei er hinterher doch genauso klug, einsatzfähig und charmant wie zuvor.
Ihr Rat an Betroffene vor einer betrieblichen Eingliederungsmaßnahme und/oder einer stufenweisen Wiedereingliederung: „Ich würde beim nächsten Mal mehr für mich einstehen“, erläutert Laura Baumann. „Dazu würde ich mich vor meiner Rückkehr an den Arbeitsplatz überlegen, was ich brauche. Wie stelle ich mir vor, dass meine Vorgesetzten, mein Team, mit mir umgehen? Und wie viel will ich preisgeben und wo ist meine Grenze an Offenheit erreicht?“, erläutert Laura Baumann. Denn Vorgesetzte, so toll sie als Führungskräfte auch seien, seien vermutlich trotzdem von einem solchen Gespräch überfordert.
Eine kurze Anfrage an Mitglieder der Deutschen Depressionsliga, die ebenfalls dem Aktionsbündnis Seelische Gesundheit angehört, hat gezeigt, dass Laura Baumann mit ihren Erfahrungen nicht allein ist: Manche Betroffene haben, trotz offizieller betrieblicher Eingliederungsmaßnahmen, nicht ihren Beruf zurückfinden können. Vielleicht trägt die „Woche der Seelischen Gesundheit“ im Oktober dazu bei, dass sich daran etwas ändert.