Alle Jahre wieder steht auch das kbo-Isar-Amper-Klinikum in Haar bei München vor der Aufgabe, die Weihnachtstage zu gestalten. Wie die Psychiatrie auf die Bedürfnisse der Patienten und Mitarbeitenden eingeht, wer Zeit zu Hause verbringen kann und wer freiwillig auf Station bleibt, schildert Chefarzt Dr. Nicolay Marstrander.
Dr. Marstander, Weihnachten ist für viele Menschen eine besondere Zeit. Vor welche Herausforderungen stellt Sie das in der kbo-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Haar?
Häufig erleben wir schon die vorweihnachtliche Zeit als emotional aufgeladener und anstrengender. Das gilt für die Patienten wie auch für das Personal. Denn vor Weihnachten steht immer die Frage an, wer in diesen Tagen bei uns auf Station bleibt, wer bereits entlassen wird und wer zumindest kurzzeitig zu seiner Familie nach Hause kann. In der Regel bleibt etwa die Hälfte der Patienten auf Station.
Wonach entscheidet sich, wer von den Patientinnen und Patienten bei Ihnen bleibt?
Das hängt zum einen von der Schwere der Erkrankung ab und von den familiären Umständen. In geordneten Strukturen kann es für den Patienten stabilisierend sein, an Weihnachten Zeit mit der Familie zu verbringen. Dem gegenüber sehen wir aber große Schwierigkeiten in Familien mit nicht aufgearbeiteten Traumata und Missbrauch, wo der Kontakt mit der Ursprungsfamilie destabilisierend wirken kann. Der mögliche Weihnachtsbesuch sorgt bereits im Vorfeld für enormen Stress bei betroffenen Patienten und es muss gut abgewogen werden, ob sie nicht vielleicht doch besser bei uns bleiben. Wir wissen alle, dass diese Zeit nicht nur besinnlich, sondern auch schwierig sein kann.
Und wenn jemand etwa eine Depression oder eine Angststörung hat und auf einem guten Weg der Genesung ist?
Dann versuchen wir in vielen Gesprächen herauszufinden: Ist es sinnvoll, zu Weihnachten den „Einstieg da draußen“ zu wagen und sich mit den ganzen familiären und sozialen Anforderungen auseinanderzusetzen? Oder ist es im Gegenteil besser, die Feiertage noch in einem geschützten Rahmen zu verbringen, um dann im neuen, frischen Jahr rauszugehen. Manchmal gibt es auch Interessen von Dritten. Vielleicht drängt die Familie darauf, zusammen zu verreisen, oder Kinder haben Erwartungen an ein gemeinsames Weihnachtsfest, oder der Nachbar, der die Katze eines Patienten füttert, fährt selbst weg. Das muss alles individuell geklärt werden.
Wie können denn individuelle Lösungen aussehen?
Das beginnt damit, dass jemand für zwei Stunden ,Kurzausgang‘ bekommt, um etwa in die Kirche zu gehen, wo er oder sie zu Weihnachten immer an der Messe teilnimmt. Oder Angehörige holen einen Patienten in enger Absprache mit uns für zwei Stunden ab, um zusammen essen zu gehen. Andere Patienten dagegen möchten eine sogenannte Belastungserprobung machen: Sie gehen an Heiligabend nachmittags nach Hause, kommen am nächsten Vormittag zurück und wir besprechen ihre Erfahrungen dann therapeutisch.
Was sagen später die Patientinnen und Patienten, die nach Hause durften?
Das ist unterschiedlich. Manche sagen: ,Ich bin froh, dass ich das gemacht habe, aber es war auch gut, dass es nur zwei Stunden waren und ich wieder hier bin.‘ Andere kehren ganz beglückt zu uns zurück und spüren, dass sie bereit sind, entlassen zu werden. Und die, bei denen es katastrophal verlaufen ist, wussten das meist irgendwie schon vorher, hatten sich aber dennoch dafür entschieden.
Was empfehlen Sie Angehörigen für die Weihnachtstage?
Angehörige sollten aus meiner Sicht eine Offenheit für die Bedürfnisse der psychisch erkrankten Menschen haben. Es ist hilfreich zu akzeptieren, wenn jemand nur kurz nach Hause kommen möchte oder womöglich gar nicht. Auch, wenn ich mir als Angehöriger ein anderes Weihnachten wünschen würde.
Und wie gehen Patientinnen und Patienten damit um, an Weihnachten nicht zuhause sein zu können?
Manche sagen hinterher: ,Das war total gut für mich, dass ich eben nicht zu Hause war und mich um andere kümmern musste, um das ganze Schmücken und Kochen.‘ Man signalisiert etwas damit, dass man an den Feiertagen bewusst nicht dabei ist. Therapeutisch kann das ein wichtiger Prozess sein. Andere wollen aber auch gar nicht nach Hause, weil ihnen die Zeit nichts bedeutet. Oder weil sie sich schwer damit tun, freudig auf diese Tage zu blicken und womöglich auch schon über Pläne für das neue Jahr zu sprechen. Und wir haben viele Patienten, die einsam sind, oder die schlicht kein Zuhause haben und es vielleicht sogar schätzen, bei uns etwas Fürsorge und soziale Kontakte zu erfahren. Das gilt auch für schwer psychisch kranke Menschen, die wir seit Jahren kennen und ambulant behandeln: Für viele von ihnen ist Weihnachten eine Herausforderung. Sie leben allein, haben keine engen Freundschaften, eher Kontakte in der Stadt. Aber an Weihnachten haben Treffpunkte und Lädchen geschlossen und Angebote in der Gemeinde finden weniger statt.
Gestalten Sie die Advents- und Weihnachtszeit auf Station anders als sonst?
Auf jeden Fall, auch, um etwas mehr Normalität von ,draußen‘ herzustellen. Schon Mitte Dezember fangen unsere Therapeuten an, im Rahmen von milieutherapeutischen Maßnahmen eine Weihnachtsatmosphäre auf der Station entstehen zu lassen, etwa mit dem gemeinsamen Basteln von Weihnachtsschmuck – für die Stationen und unsere Weihnachtsbäume. An Heiligabend gibt es zudem immer ein besonderes Essen.
Haben Sie die Möglichkeit, auf die Bedürfnisse von gläubigen Patientinnen und Patienten einzugehen?
Wir haben auf dem Krankenhausgelände in Haar eine evangelische und eine katholische Kirche, wo auch an Heiligabend Messen gefeiert werden. Die Patienten sind immer dazu eingeladen, ebenso Mitarbeitende.
Viele Mitarbeitende sind ja ebenfalls im Weihnachtsurlaub und es gibt weniger Therapiestunden. Wie überbrücken Sie die Zeit für die Patientinnen und Patienten auf Station?
Seit mehreren Jahren haben wir gute Erfahrungen mit freiwilligen Einsätzen von Mitarbeitenden unseres multiprofessionellen Teams an Feiertagen gemacht. Zum Beispiel kommt die Ergotherapeutin am ersten Weihnachtstag für vier Stunden, wenn ihre Familie ohnehin nicht da ist. Da freuen sich die Kollegen und die Patienten, das ist sehr schön. Andere schätzen diese Tage, weil sie vielleicht mit Weihnachten nicht so viel verbinden und lieber ein anderes Mal frei nehmen. Da bekommen wir immer ein außergewöhnliches Angebot zusammen.
Kommen Sie als Chefarzt auch auf Station an Weihnachten?
Die letzten Jahre war ich immer an Heiligabend von 9 bis 14 Uhr dort, das werde ich dieses Jahr auch so machen. Meine Kinder sind schon größer, meine Familie hat damit kein Problem. Ich sitze dann auch nicht in meinem Büro, sondern bin auf den verschiedenen Stationen unterwegs – mit Zeit für Smalltalk und Zuspruch im direkten Kontakt. Am 24. Dezember bin ich weniger als Arzt dort, sondern vor allem als Mitmensch.