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Ist das noch Pubertät oder schon eine psychische Erkrankung?

In der Pubertät struktuiert sich das Gehirn komplett um, das Gefühlsleben fährt deshalb Achterbahn. Das Risiko für eine psychische Erkrankung ist höher als zuvor. Woran Eltern merken, dass die Stimmungsschwankungen ihrer Tochter oder ihresSohnes doch auf psychische Erkrankung hindeuten, erläutert Dr. Ulf Thiemann, Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der LVR-Klinik Bonn.

 

„Achtung, Großbaustelle!“
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 Dr. Ulf Thiemann
    Foto Dr. Ulf Thiemann©privat

Wenn Kinder in die Pubertät kommen, bleibt gewissermaßen kein Stein auf dem anderen, weder körperlich noch seelisch. „Insgesamt handelt es sich um eine Phase, in der unglaublich viele Entwicklungsaufgaben parallel und binnen kurzer Zeit zu bewältigen sind“, sagt Dr. Ulf Thiemann, Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der LVR-Klinik Bonn. Freundschaften und erste Liebesbeziehungen werden eingegangen, persönliche Interessen und Präferenzen bilden sich heraus und hormonelle Änderungen nehmen unter anderem Einfluss auf die Leistungsmotivation. 

Psychische Erkrankungen in der Pubertät: Welche Warnsignale und Risikofaktoren gibt es?

Gleichzeitig intensiviert sich die Loslösung von primären Bezugspersonen wie den Eltern. „Es handelt sich um eine besonders vulnerable, also verletzliche Lebensphase“, erklärt der Psychiater, „Nervenzellverbindungen im Gehirn organisieren sich noch einmal ganz neu und die Hormone beeinflussen die emotionale Stabilität“. Das damit verbundene Chaos kann sich als vorübergehende Stimmungsschwankungen bemerkbar machen, als gelegentliche Wutausbrüche oder Rückzug mit Türenknallen – ganz normale Symptome der Pubertät. Treten sie aber dauerhaft auf, kann es sich um eine psychische Erkrankung handeln. Frühzeitig erkannt, kann sie in der Regel gut therapiert werden.

Zu den häufigsten psychischen Störungen in der Pubertät gehören Depressionen und Angststörungen sowie seelisch beeinflusste körperliche Beschwerden. Jeder vierte Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren ist derzeit von einer seelischen Störung betroffen. Auf dem Weg von der Kindheit in die Welt der Erwachsenen geraten vor allem die jungen Menschen aus dem Gleichgewicht, die schon als Kinder sehr sensibel waren, bereits schwere Krankheit, Trennungen, Gewalt oder Vernachlässigung erlebt haben, oder deren Eltern an einer psychischen Störung leiden. Soziale Faktoren wie Armut und Ausgrenzung erhöhen ebenfalls das Erkrankungsrisiko. Der Druck durch die sozialen Medien, mit dort gezeigten Selbstoptimierungsidealen und Schönheitsvorstellungen mithalten zu müssen, kann ebenfalls dazu beitragen. 

Warum geraten manche Jugendliche auf Abwege?

„Durch den Umbau des Gehirns empfinden Jugendliche positive und negative Emotionen besonders stark und lassen sich in einer Gruppe schneller zu risikoreichen Aktionen verleiten“, so Dr. Ulf Thiemann, der für Eltern und Angehörige den LVR-Ratgeber „Psychische Gesundheit bei Jugendlichen“ verfasst hat. Sind die Persönlichkeit und der eigene Selbstwert noch nicht gefestigt, ist der Mensch auch empfänglich für Süchte. Von Computerspielen oder Drogen wie Alkohol und Cannabis erhoffen sich manche Jugendliche, dem Aufruhr der Gefühle im Inneren zu entfliehen. Das kann dann zur Sucht werden. 

„Es gibt durchaus Jugendliche, die umfangreich digitale Medien konsumieren, auch spielen, und trotzdem anderen Alltagsanforderungen gut gerecht werden, also zur Schule zu gehen und Real-Life-Kontakte zu haben“, berichtet Dr. Ulf Thiemann. „Führt die Beschäftigung mit diesen Medien jedoch zur Vernachlässigung anderer Interessen und anderer Menschen, ist vielleicht sogar eine Toleranzentwicklung da und Betroffene müssen immer mehr spielen, um das gleiche, subjektiv positive Gefühl zu bekommen, sind das entscheidende Hinweise für einen kritischen Konsum bis hin zur Suchtentwicklung.“ Unbehandelt können sich psychische Störungen chronifizieren und etwa den Start ins Berufsleben erschweren. 
Cannabiskonsum kann zudem Psychosen begünstigen. Auch das Gehirn kann durch den Konsum langfristig Schaden nehmen, denn es ist in dieser Zeit besonders sensibel: Erst mit ca. 25 Jahren ist das Gehirn ausgereift. 

Woran erkennt man, dass es eine psychische Erkrankung sein kann?

Ohne übertrieben ängstlich zu sein: Für Eltern ist es wichtig, Veränderungen ihrer Kinder in der Pubertät zu begleiten und problematische Entwicklungen nicht als „typisch für diese Phase“ abzutun, wenn sie den Alltag beeinträchtigen. Um abzuklären, ob alles „im grünen Bereich“ ist oder doch eine psychische Erkrankung vorliegt, sollten Eltern, so Dr. Ulf Thiemann, schon frühzeitig Beratungsangebote in Anspruch nehmen. 

Zu möglichen Symptomen einer psychischen Erkrankung können gehören:

👉🏼 anhaltender Rückzug von Familie und Freunden, kein Interesse mehr an zuvor geliebten Hobbys
👉🏼 dauerhaft gedrückte Stimmung, Hoffnungslosigkeit und ausgeprägte Selbstzweifel
👉🏼 starke Ängste vor Ablehnung oder sich zu blamieren
👉🏼 ständiges Grübeln und sich sorgen
👉🏼 extreme Wutanfälle und Reizbarkeit (gerade bei Jungen kann sich Depression so äußern)
👉🏼 wenn Suizidgedanken geäußert werden
👉🏼 wiederkehrende körperliche Beschwerden, für die es keine organischen Ursachen gibt
👉🏼 starkes Unter- oder Übergewicht und verändertes, auffälliges Essverhalten
👉🏼 anhaltende Schlafstörungen
👉🏼 Selbstverletzungen des eigenen Körpers durch Schneiden („Ritzen“), Kratzen oder Verbrennen (so versuchen Jugendliche unangenehme Gefühle auszuhalten, mit denen sie nicht zurechtkommen)
👉🏼 übertriebenes Sportprogramm (kann ein Hinweis auf eine Essstörung sein)
👉🏼 unablässiges Wiederholen von Tätigkeiten wie Händewaschen (kann auf eine Zwangsstörung hindeuten)
👉🏼 Konzentrationsstörungen, Abfall schulischer Leistungen, Verweigerung des Schulbesuchs
👉🏼 Übermäßiger Medienkonsum bei gleichzeitiger Vernachlässigung der „echten“ Welt

Um mit ihren Kindern im Gespräch zu bleiben und ihre Entwicklung nachvollziehen zu können, sollten „Eltern immer wieder Beziehungsangebote machen“, empfiehlt Dr. Ulf Thiemann. Dabei komme es nicht so sehr auf die Länge der zusammen verbrachten Zeit an, sondern auf die Stabilität, die Kontinuität des Angebots. „Dafür kann so etwas wie eine Familienzeit hilfreich sein, einmal die Woche eine gemeinsame Aktivität oder vielleicht im Tagesablauf auch feste Rituale wie der Austausch bei gemeinsamen Mahlzeiten.“ Sind diese Rituale schon im Kindesalter etabliert, lasse sich die Beziehung auch unter den geänderten Vorzeichen der Pubertät oft besser und vertrauensvoller fortsetzen. 

Info

Rat finden

Fundiert und verständlich: Der LVR-Ratgeber „Psychische Gesundheit bei Jugendlichen“ erklärt Eltern und Angehörigen, auf was sie achten müssten, was sie tun können und wo sie Hilfe finden, wenn Jugendliche aus dem Gleichgewicht geraten.