Es ist verführerisch: Das Internet hat 24 Stunden geöffnet, jeder kann dort jederzeit einkaufen, Glücksspielen nachgehen, eine Rolle in einem Computerspiel einnehmen, Social Media oder pornografische Videos konsumieren. Wer die Kontrolle darüber verliert, verliert oft auch zunehmend die Verbindung zur realen Welt. In einem Forschungsprojekt hat Dr. Jan Dieris-Hirche, Leiter der Medienambulanz am LWL-Universitätsklinikum Bochum, gezeigt, dass das Online-Programm OMPRIS nachhaltig helfen kann. Nun ist das Programm auf dem Weg in die Regelversorgung.

Herr Dr. Dieris-Hirche, Sie haben das Forschungsprojekt OMPRIS ins Leben gerufen, um mit einer Onlinetherapie Menschen zu helfen, die internetsüchtig sind. Ist das kein Widerspruch?
Nein. Wir wollten dahin gehen, wo Menschen süchtig sind. Und das ist auch nichts Neues. In der Suchtmedizin gibt es Streetworker, die suchen die Menschen an den Orten auf, wo sie ihre Drogen konsumieren. Auf diese Weise können wir manche Betroffene – das war damals unser Gedanke – auch frühzeitig ansprechen, noch bevor eine Chronifizierung einsetzt. Zugleich haben wir so auch Menschen erreicht, die aus Schuld- und Schamgefühlen nicht in unsere Ambulanz oder die Klinik gekommen wären. Internetsucht kann ja vieles bedeuten: Online-Glücksspielsucht, -Kaufsucht, -Pornografiesucht, Computerspielsucht, Social Media-Sucht.
Wofür genau steht OMPRIS und um was geht es dabei?
OMPRIS ist die Abkürzung für „Onlinebasiertes Motivationsprogramm zur Reduktion des problematischen Medienkonsums und Förderung der Behandlungsmotivation bei Menschen mit Computerspielabhängigkeit und Internetsucht“. Nach der Vorab-Studie OASIS haben wir mit OMPRIS eine Online-Kurzzeittherapie entwickelt und von 2020 bis 2023 in einer Studie erforscht. Die Teilnehmenden erhielten ein vierwöchiges Beratungsprogramm mit zwei Webcam-basierten Einzelgesprächen in der Woche. Hierbei wurden viele spezifische therapeutische Inhalte und Psychoedukation vermittelt. Zudem gab es Sozialberatungen bei sozialen Schwierigkeiten. Obwohl alles online stattfand, handelte es sich also um ein sehr individualisiertes Angebot, zumal wir je nach Sucht verschiedene Module angeboten haben. Es ist ein Unterschied, ob eine Therapeutin einen 18-jährigen Menschen berät, der computerspielsüchtig ist, oder einen 54-jährigen Mann mit Pornografiesucht.
Die Bandbreite der Teilnehmenden war so groß?
Absolut. Wir hatten Menschen mit einer hohen Symptomlast dabei, die wir auch stationär in der Klinik aufgenommen hätten, weil sie ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten und soziale Kontakte verloren hatten. Einige Teilnehmende befanden sich im sogenannten riskanten Bereich, in dem es schon eine Toleranzentwicklung gab: Sie konnten ihren Konsum noch irgendwie handhaben, merkten aber, da gibt es ein Problem. Und es haben Menschen teilgenommen, deren Suchtverhalten laut Fragebogen unauffällig war, die aber trotzdem gesagt haben: „Nein, das stört mich, ich möchte da was machen.“ Letztlich geht es um die Frage: „Konsumiere ich das Internet, oder konsumiert das Internet mich?“
Wie sind Sie konkret vorgegangen in der Onlinetherapie?
Am Anfang stand in der Regel ein Mediennutzungsprotokoll: Die Teilnehmenden sollten aufschreiben, in welcher Stimmungslage sie zuvor waren, was haben sie vielleicht zuvor erlebt, was könnte die Nutzung oder auch einen Kauf im Internet ausgelöst haben. Das hat zwar immer ein bisschen Hausaufgabencharakter, aber wenn man das macht, vor allem wertfrei macht, kann man viel daraus ablesen. Anhand eines solchen Protokolls lässt sich dann das individuelle Störungsmodell erarbeiten: Welche Faktoren treiben den jeweiligen Menschen in die Sucht und was hält die Sucht aufrecht? Wir haben gefragt, was sind die Vorteile der Sucht? Wie hilft sie, über bestimmte Dinge, vor allem unangenehme Gefühle, hinwegzukommen? Und schließlich: Was sind die Kosten, vor allem auch im übertragenen Sinne. Die Teilnehmenden haben sich dann selbst eine Art Beipackzettel geschrieben: Zu welchen Veränderungen bin ich in dieser Phase bereit? Wie sähe eine gesunde oder zumindest gesündere Internetnutzung aus? Schließlich ging es darum zu erarbeiten, wie der Betroffene sich ähnlich gute Gefühle und Erfahrungen, die ihm der Konsum vermittelt, in kleinen Dosen im echten Leben holen kann.
Internetsucht ist ja eine sogenannte substanzungebundene Sucht. Was geschieht dabei im Gehirn?
Auch bei Internetsucht wird stark das Belohnungssystem im Gehirn angesprochen, das Neurotransmitter wie Dopamin freisetzt – was einem ein gutes Gefühl vermittelt. Hinzu kommt, dass das Gehirn gerne energieeffizient vorgeht. Hat man zweimal etwas gemacht und das hat funktioniert, lernt das Gehirn: Ah, dieser Weg ist gut und schnell. Schneller, als wenn ich überlege, soll ich was anderes ausprobieren? Das dauert länger und man weiß auch nicht, ob das einem wirklich ein gutes Gefühl verschafft. Gleichzeitig wird die Fähigkeit zur Impulskontrolle immer mehr herabgesetzt, das bewusste Nachdenken darüber, ob das jetzt sinnvoll ist und sich dagegen zu entscheiden. So setzt ein Automatismus ein, der nicht mehr bewusst abläuft.
Und welcher Weg führt da raus?
Im Wesentlichen geht es um Emotions- und Stressregulation sowie eine starke Achtsamkeit für die Verhaltensabläufe. Und natürlich geht es um Motivation zur Veränderung. Menschen mit Internetsucht haben häufig Schwierigkeiten, mit unangenehmen Gefühlen wie Frust, Wut, Ärger, Enttäuschung, Traurigkeit, Einsamkeit, Langeweile oder Angst umzugehen. Ängste spielen gerade bei Social Media-Sucht eine große Rolle. Hier geht es viel um das Gefühl, allein, nicht verbunden sein, nicht wahrgenommen zu werden im echten Leben. Da stellt sich dann die Frage, warum fällt es einem solchen Menschen so schwer, jemanden einfach mal anzurufen oder zu treffen? Ist die Hürde so groß, weil dahinter soziale Ängste liegen? Oft entstehen dann Denkfehler wie: „Ich mach das, weil ich hier Anerkennung bekomme, weil mir das vertraut ist, weil ich es kenne.“ Gleichzeitig kommt es zu einem Teufelskreis, wenn sich jemand zunehmend in der virtuellen Welt bewegt, aber keine positiven Erfahrungen mehr in der Realität sammelt. Wir hatten zum Beispiel Studierende, die darunter litten, Abgaben für Hausarbeiten oder Referate immer aufzuschieben. Für diese ,Prokrastination' haben wir ein eigenes Modul entwickelt, das ihnen half, anders mit Stress umzugehen und das ,Anfangen' zu üben. Für andere war es wichtig, einen Weg zu finden, Wut und Aggression anders zu handhaben. Ich erinnere mich an einen Studenten, der sich in der Schule immer durchgemogelt hatte, nie gelernt hatte, richtig zu lernen, nun im Studium nicht klarkam, Angst hatte, es seinen Eltern zu sagen, die seinen Lebensunterhalt finanzierten. Hier ging es darum, ehrlich zu sein, vielleicht auch ein anderes Studium aufzunehmen.
Wie nachhaltig ist OMPRIS?
Wir haben nach sechs Monaten nachgefragt und konnten zeigen, dass die Erfolge der Onlinebehandlung im Schnitt erhalten blieben. Nach zwei Jahren haben wir noch einmal die Teilnehmenden kontaktiert. Wir haben 64 Prozent von ihnen erreicht und das Ergebnis war das Gleiche: bei zwei Dritteln der Teilnehmenden blieb die Symptomlast vom Ende der Therapie gleich oder ging sogar noch weiter runter. Manche fühlten sich durch OMPRIS auch motiviert, eine stationäre oder ambulante Behandlung anzuschließen.
OMPRIS geht jetzt in die Regelversorgung. Was bedeutet das?
Mittels einer Förderung im Rahmen des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG) des Bundes arbeiten wir gerade daran, dass wir OMRPIS als digitales Angebot in die LWL-Versorgungslandschaft implementieren. Wir gehen davon aus, dass wir dann am LWL-Universitätsklinikum Bochum Anfang 2026 Betroffenen OMPRIS digital anbieten können.
Gibt es OMPRIS auch schon woanders als nur bei Ihnen in Bochum?
Meines Wissens ist OMPRIS einzigartig und bisher planen nur wir, es regulär anzubieten. Natürlich ersetzt OMPRIS keine analoge Therapie, aber es kann in vielen Fällen ein niederschwelliges Erstangebot sein. Und eine gute Brücke, um einen Menschen schnell therapeutisch aufzufangen.