Leichte Sprache

„Was ist denn schon normal?“

Wenn das eigene Kind starke Wutausbrüche hat, sich von seinen Klassenkameraden zurückzieht, kaum noch etwas isst oder nicht mehr spricht, kann ein stationärer Aufenthalt in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie die Wende bringen. Eine Broschüre der Vitos Kinder- und Jugendkliniken für psychische Gesundheit informiert Eltern über alle Aspekte des Alltags auf Station. Damit können sie ihren Kindern Ängste nehmen, die oft auf unklaren Vorstellungen und Stigmatisierung beruhen.

„Sind da nicht die Verrückten?“ Charlie ist zehn, ein sportliches Kind, das Fußball liebt, als es für sechs bis zwölf Wochen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie soll. Natürlich hat Charlie Angst davor. Angst, sich von den Eltern zu trennen. Angst, ob der stationäre Aufenthalt tatsächlich hilft, sich innerlich ruhiger zu fühlen und nicht mehr plötzlich unglaublich wütend zu werden und mit Sachen um sich zu werfen. Angst, es den Freunden zu sagen. Auch Charlies Eltern sind unsicher, ob ein stationärer Aufenthalt das Richtige für ihr Kind ist. Die Vitos Kinder- und Jugendkliniken für psychische Gesundheit in Hessen stellen deshalb die Broschüre „Was ist denn schon normal? bereit. In altersgerechter Sprache klärt sie aus Kindersicht Familien darüber auf, wie ein solcher Aufenthalt abläuft, dass der Schulunterricht fortgesetzt wird, wie eine Notaufnahme und eine seltenere Einweisung auf richterlichen Beschluss hin funktioniert und welche häufigen Diagnosen zu einer Aufnahme führen können.

Ein Klinikaufenthalt ist kein Einzelfall

Bild
Kinder
      Foto © pixabay

Charlie – das fiktive Kind aus der Broschüre – ist mit seiner psychischen Erkrankung nicht allein. Denn im echten Leben sind auch viele Kinder von psychischen Erkrankungen betroffen. Bei Depressionen beispielsweise sehen die Zahlen so aus: 22.600 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 17 Jahren sind im Jahr 2022 wegen einer Depression in einer Klinik behandelt worden, es war die häufigste Diagnose. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2023 62.430 Kinder- und Jugendliche stationär behandelt, darunter wegen Essstörungen, Angsterkrankungen, Enuresis (Einnässen)/Enkopresis (Einkoten), Störung des Sozialverhaltens, ADHS, Mutismus, Psychosen oder Alkoholmissbrauch.

Die Broschüre beginnt anschaulich damit, dass Charlie abwechselnd sauer, verzweifelt, ängstlich und dann sehr wütend wird. Schließlich will Charlie gar nicht mehr in die Schule gehen. Der Kinderarzt empfiehlt einen Termin in der Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Psychologin dort rät zu einer stationären Aufnahme. So hätte Charlie Zeit, in einer fortlaufenden Therapie zu verstehen, in welchen alltäglichen Situationen beispielsweise Wut aufkommt, wie man Gefühle unterscheiden kann und sich dann allmählich auch anders verhalten kann. Natürlich wirft das viele Fragen auf, beispielsweise: Auf wen wird man in einer Klinik treffen? Dazu stellt die Broschüre die verschiedenen Berufsgruppen vor, die in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zusammenarbeiten: Ärztinnen und Ärzte, Mitarbeitende des Pflege- Erziehungsdienstes, Therapeutinnen und Therapeuten, Psychologinnen und Psychologen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter und Reinigungskräfte.

Wie der Alltag in einer Klinik wirklich aussieht

Weil Charlie noch nicht volljährig ist, bekommt Charlie für seine Zeit in der Klinik einen Bezugsbetreuer. Dieser ist für alle Fragen der erste Ansprechpartner, erklärt Charlie die Regeln auf Station wie Fernseh- und Süßigkeitenzeiten und schlichtet auch mal Streit, wenn erforderlich. Außerdem nimmt er an allen Therapie- und Familiengesprächen teil. Charlies Eltern unterschreiben dafür eine Einverständniserklärung, damit der Bezugsbetreuer in ihrer Abwesenheit entscheiden kann, ob Charlie etwa zum Schwimmen mitfahren darf. Natürlich stehen Familien weiterhin in engem Kontakt, durch feste Telefon- und Besuchszeiten und Wochenenden für die jungen Patientinnen und Patienten zuhause. Alles wird gemeinsam entschieden und transparent kommuniziert. Die Meinung der Kinder und Jugendlichen wird ernstgenommen. Zur Wahrung ihrer Rechte gibt es auf Station eine Broschüre, die sie jederzeit einsehen können. Bei Bedarf können sie sich etwa auch beim Patientenfürsprecher der Klinik darauf berufen.

Entgegen manchen Klischeevorstellungen ähnelt der Alltag in der Klinik dem in der Familie: Zähneputzen morgens und abends, gemeinsame Mahlzeiten, Freizeit mit Spielen und Ausflügen, aber eben auch Schule. Dafür gibt es auf dem Klinikgelände eine eigene Einrichtung mit kleinen Klassen. So können die Lehrer dort gezielter auf die einzelnen Patientinnen und Patienten eingehen. Sie tauschen sich etwa auch mit Charlies Lehrern aus, damit er nicht zu viel vom Unterrichtsstoff verpasst und nach seinem Klinikaufenthalt in seiner Klasse gleich wieder den Anschluss findet. Der Stundenumfang ist geringer, weil jedes Kind noch Therapiestunden hat. 

 

Bild
Tiertherapie
     Foto © pixabay

Individuelle Unterstützung vom Bezugsbetreuer oder der Bezugsbetreuerin

Dafür bekommt auch Charlie von seinem Bezugsbetreuer einen eigenen Plan, in dem neben Schulstunden Gespräche, Einzeltherapie-Einheiten und Familiengespräche eingetragen sind. Der Bezugsbetreuer unterstützt Charlie und die Eltern zudem dabei, die Ziele von Charlies Aufenthalt zu erreichen. Dazu gehören auch Gruppenaktivitäten, weil gerade im sozialen Miteinander eher Konflikte aufbrechen, die dann direkt bearbeitet werden können. Kreativtherapiestunden helfen Charlie, Gefühle besser kennenzulernen und zum Ausdruck zu bringen. In der tiergestützten Therapie mit Hunden, Pferden oder Eseln lernen Kinder wie Charlie, mit anderen zusammenzuarbeiten und Verantwortung zu übernehmen.

 

 

Auch Charlie erlebt anfangs noch so starke Wutanfälle, dass Charlie sich nicht von selbst wieder beruhigen kann. Für einen solchen Fall gibt es einen Notfallplan. So ist mit den Eltern vereinbart, dass Charlie ein Medikament bekommt: Das ist ein Saft, der beruhigt und ein bisschen müde macht. So kann der Bezugsbetreuer Charlie ins Bett bringen und danach regelmäßig in der Nacht nach Charlie sehen. Charlie macht gute Fortschritte, nach acht Wochen steht bereits die Entlassung bevor. Damit Charlie an die Erfolge aus der Klinik im Alltag anknüpfen kann, entscheiden sich Therapeutin und Eltern dafür, sich in der ersten Zeit vom Jugendamt helfen zu lassen: eine sozialpädagogische Familienhilfe kommt regelmäßig nach Hause, um mit Charlie und den Eltern neu gelernte Verhaltensweisen weiter zu festigen. Denn während Charlie in der Klinik war, bekamen auch Charlies Eltern Hausaufgaben: Sie mussten üben, wie sie am besten darauf reagieren, wenn ihr Kind doch wieder wütend wird. Nach Charlies Entlassung ist das aber nicht mehr der Fall. Um sich weiter zu stabilisieren, geht Charlie nur noch ab und an zur Nachbetreuung zu seiner Therapeutin in die Ambulanz. So gelingt ein fließender Übergang zurück ins eigene Leben.