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Das Ringen um die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“

 

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Habe ich nur feste Gewohnheiten und bin etwas eigen – oder ist das eine Autismus-Spektrum-Störung? Immer mehr Menschen wollen dies abklären lassen. Der Psychiater Prof. Matthias Dose über Terminnot in Spezialambulanzen, „weiblichen Autismus“ und warum manche Menschen auf einer Diagnose beharren, die gar nicht an Autismus leiden. Der langjährige Ärztliche Direktor am kbo-Isar-Amper-Klinikum in Taufkirchen/Vils arbeitet heute als Fachberater der kbo für Autismus-Spektrum-Störungen und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von „Autismus Deutschland“.

 

 

 

Herr Prof. Dose, durch Influencerinnen und Influencer in Social Media und Selbstdiagnostik-Fragebögen im Internet meinen immer mehr Jugendliche und Erwachsene, an einer Autismus-Spektrum-Störung, kurz ASS, zu leiden und wollen dies überprüfen lassen. Was bedeutet das für Spezialambulanzen und niedergelassene Fachleute?

Alle diese Stellen werden schon seit einiger Zeit überflutet mit Anfragen, denen kaum nachgekommen werden kann. Die entsprechende Spezialambulanz der Uniklinik München etwa hat ihre ohnehin auf zwei Jahre ausgelegte Warteliste im Sommer 2023 wieder geschlossen. Der Andrang ist riesig, aber nur in etwa einem Drittel der Fälle kann die Verdachtsdiagnose bestätigt werden. Die Diagnostik selbst ist aufwändig und kostspielig und verzögert sich so für Menschen, die sie wirklich brauchen.

 

Vor allem sind auch junge Frauen in den Fokus gerückt, die sich um eine ASS-Diagnose bemühen.

Inzwischen weiß man, dass es Menschen gibt, darunter viele Frauen, die durch intelligentes Lernen und Imitationsverhalten eine Autismus-Spektrum-Störung maskieren und kaschieren können – die Fachbegriffe dafür sind ‚Masking‘ und ‚Camouflaging‘. In diesem Fall tritt die Störung in Kindheit und Jugend nicht oder kaum in Erscheinung – was ja gerade ein wichtiges Diagnose-Kriterium wäre. Das wiederum kann auch zu falschen Diagnosen wie ADHS oder einer Persönlichkeitsstörung führen. Hinzu kommen Stereotypen, die eher Mädchen und Frauen zugeschrieben werden wie schüchtern oder still sein. In der Fachwelt meinen viele, der weibliche Autismus sei ganz anders als bei Männern und noch nicht richtig verstanden. Ähnlich wie auch bei ADHS.

 

Bestätigt sich die Selbstdiagnose nicht, reagieren die Betroffenen offenbar unterschiedlich.

Ja, einige sind erleichtert. Darunter Menschen, die zuvor gesagt haben: ,Mir wurde als Kind diese Diagnose angehängt und ich will sie loswerden‘. Viele sind aber auch überzeugt, bei ihnen sei nur nicht gründlich genug diagnostiziert worden und suchen so lange weiter, bis ihnen jemand die Diagnose doch noch stellt. Manche Kolleginnen und Kollegen tun dies, weil es den Betroffenen hilft, wenn ihre Probleme endlich einen Namen haben. Die ohnehin zu knappen Stellen für Förderung, Therapie, Berufsfindung und -begleitung bei Autismus werden so zum Teil dann jedoch von Menschen besetzt, für die sie nicht gedacht sind.

 

 

Diese Menschen haben aber offenbar eine Form von seelischen Problemen?

Das ist so, aber diese Betroffenen können sich am ehesten mit Autismus als Diagnose identifizieren. Lieber erzählt man seinen Freundinnen und Freunden: ,Ich bin Autist, wie Elon Musk, Bill Gates und Albert Einstein‘, als zu sagen: ,Ich leide unter einer Zwangsstörung, einer Angsterkrankung, einer Depression, einer Persönlichkeitsstörung oder einer Störung der Empathiefähigkeit, einer Alexithymie‘. Gleichzeitig bleiben ihnen auf diese Weise aber auch die Therapien vorenthalten, die ihnen wirklich helfen würden.

 

Wo liegt die Grenze zwischen Charaktereigenschaft und psychischer Störung?

Das amerikanische Manual psychischer Störungen DSM5  hat das so definiert: ,Symptome in ihrer Gesamtheit müssen zu deutlicher Beeinträchtigung der Alltagsfunktionalität und der Lebenszufriedenheit und -bewältigung führen.‘ Wenn jemand studiert oder einen Arbeitsplatz hat und alles läuft ganz gut, dann ist zu vermuten, dass er oder sie möglicherweise autistische Persönlichkeitszüge hat, aber keine Autismus-Spektrum-Störung vorliegt. Zunehmend sagen übrigens auch Asperger-Autistinnen und -Autisten von sich: ,Nein, wir haben keine Störung, wir sind divers, wir sind anders‘.

 

 

 

 

Was beinhaltet die Diagnostik bei Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung?

Dazu gehören ein ausführliches Anamnesegespräch mit der betreffenden Person, alles an Vorberichten und Vorbefunden, außerdem möglichst Grundschulzeugnisse. Denn eine Autismus-Spektrum-Störung beginnt ausnahmslos immer in der Kindheit. Steht also in einem Zeugnis: ,sehr schüchtern, beteiligt sich kaum am Unterricht, findet keinen Anschluss an die Klassengemeinschaft‘, kann das ein Hinweis in Richtung Autismus sein. Wird hingegen wiederholt vermerkt: ,fröhlich, aufgeweckt, viele Freundschaften, macht sich stark für schwächere Mitschülerinnen und Mitschüler‘, dann ist das eher unwahrscheinlich. Außerdem werden nach Möglichkeit Menschen befragt, die einen früher kannten: Eltern, Geschwister, Freundinnen und Freunde. Auch eine körperlich-neurologische Untersuchung gehört dazu, um auszuschließen, dass eine organische Erkrankung des Nervensystems vorliegt oder – bei Zeichen von Selbstverletzung – etwa eine Borderline-Störung. Sind die Ergebnisse nicht eindeutig, können Fachleute noch auf ein Testverfahren mit verschiedenen Aufgaben zurückgreifen, das Autism-Diagnostic-Observation-Scale-Modul 4 für fließend sprechende ältere Jugendliche und Erwachsene.

Eignet sich dieses Testverfahren auch als Selbsttest?

Nein. Die Anwendung erfordert geschultes Fachpersonal. Generell können Selbsttests zwar eine Tendenz anzeigen, ersetzen aber keine gründliche psychiatrische Untersuchung und Diagnostik. Der britische Psychologe Simon Baron-Cohen hat einen Selbsttest namens Autism-Spectrum-Quotient oder AQ-Test entwickelt, der jedoch Schwächen hat. Eine Aussage lautet zum Beispiel: Ich bevorzuge es, Dinge immer wieder auf dieselbe Art und Weise zu machen.‘ Bei der Auswertung werden jedoch die Antworten, trifft ein bisschen zu‘ oder, trifft ausgesprochen zu‘ hinsichtlich der Möglichkeit des Vorliegens einer Autismus-Spektrum-Störung gleich bewertet. Die meisten Menschen würden – weil wir alle bestimmte Routinen haben –, ein bisschen‘ zustimmen. Wir hätten aber keine Mühe, auf dem morgendlichen Weg ins Bad das klingelnde Telefon abzuheben. Bei autistischen Menschen hingegen wäre durch so eine überraschende Unterbrechung ihrer Routine der ganze Tag kaputt. Ich selbst nutze auch Fragebögen, hake dann aber bei auffälligen Punkten nach und frage, was der Klient, die Klientin mit der Antwort genau gemeint hat.

 

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Sie plädieren für eine gute Vordiagnostik, um vor allem Spezialambulanzen zu entlasten.

Dazu biete ich selbst Fortbildungen gerade auch für niedergelassene Kolleginnen und Kollegen an. Wird hier eine begründete Verdachtsdiagnose gestellt, so meine Zukunftsvision, vergeben Spezialambulanzen Termine vorzugsweise an diese Patientinnen und Patienten.

 

Wo finden Menschen Hilfe, die abklären lassen möchten, ob sie tatsächlich an einer Autismus-Spektrum-Störung leiden?

Zu den bekanntesten Stellen gehören Spezialambulanzen an den Unikliniken in München , Freiburg  und Köln  sowie am LVR-Klinikum in Düsseldorf  und an der Psychiatrischen Institutsambulanz des kbo-Isar-Amper-Klinikums in Taufkirchen im Großraum München. Zusätzlich können etwa auch das Autismuskompetenzzentrum Oberbayern  in München, Autismus Oberbayern  und bundesweit ,Autismus Deutschland ‘ Kontakte zu entsprechenden Stellen vermitteln. Manche niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiater und psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten bieten dies ebenfalls an. Aufgrund der aufwändigen Arbeit aber nicht alle.