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„Die Zeit im Studio ist wie Urlaub“

Krankenhaussender gibt es viele. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Pfalzklinikums sitzen jedoch die Patientinnen und Patienten am Mikrofon. Von den Jüngsten bis zu den jungen Erwachsenen im Maßregelvollzug. Darunter sind viele musikalische Talente, die zum ersten Mal echte Selbstwirksamkeit erleben.

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Foto: Reith und Röber, © Pfalzklinikum

Als Röber & Reith einander noch nicht kannten, Drogen nahmen, zu Rap wegdrifteten und im Rausch Straftaten begingen, waren die beiden jungen Erwachsenen weit entfernt von einem einigermaßen normalen Leben. Eine eigene Musiksendung moderieren? Unvorstellbar. Rund sechs Monate später machen sie jeden Montagabend genau das. Ab 19 Uhr sind sie mit „Hip-Hop Deluxe“ zu hören, beim Patientenradio „Peilsender“ des Pfalzklinikums in Klingenmünster. Auf 87,9 MHz kann man sie rund um die Stadt an der Weinstraße empfangen, im Internet auch weltweit unter www.peilsender.radio.de. Das ist ein deutlich größerer Radius, als ihn die beiden Männer derzeit haben. Sie sind Patienten im Jugend-Maßregelvollzug in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Röber & Reith heißen mit Nachnamen wirklich so, sie sind stolz auf ihre Sendung und verwenden daher keine Pseudonyme.

 

Ein Sender entstanden im Maßregelvollzug

Begehen junge Menschen ab 14 Jahren Verbrechen, sind aber aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht oder zumindest nicht voll schuldfähig, treten sie keine Haftstrafe in einem Gefängnis an. Sie werden in den Maßregelvollzug überstellt. Das Ziel: durch Therapie das eigene Verhalten zu verändern, Krankheitssymptome zu mindern, soziale und kommunikative Fertigkeiten zu erlernen, letztlich irgendwann einen Platz in der Gesellschaft zu finden und ein eigenständiges Leben zu führen. Die Diagnosen lauten oft Drogenabhängigkeit (inklusive Alkoholismus) oder aber etwa Dissoziale Persönlichkeitsstörung, ADHS, Schizophrenie, Intelligenzminderung. Die überwiegend männlichen Patienten bleiben mindestens zwei Jahre (bei Sucht), ansonsten aber auch oft deutlich länger in stationärer Behandlung. „Diese langen Zeiträume haben den ,Peilsender‘ erst möglich gemacht“, sagt Saskia Schmitt. Die Musiktherapeutin hat gemeinsam mit ihrem Kollegen Rudi Pericki und ihrer Kollegin Lara Scheib den Aufbau des Patientenradios von 2005 an begleitet, der deutschlandweit wohl einzigartig ist.

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Foto: Reith, Röber und Schmitt © Pfalzklinikum

„In vielen Kliniken gibt es Krankenhausradios oder -sender, aber die werden von Ehrenamtlichen gemacht, für Patientinnen und Patienten. Wir hingegen wollten unsere jungen Leute ans Mikrofon bringen“, berichtet Saskia Schmitt. Und das gelingt. Nicht nur muss jeder auf der Station ein Instrument lernen. Er oder sie hat auch die Möglichkeit, eigene Songs im Radio zu präsentieren, das eigene Bass-, Geige-, Klavierspiel. Röber & Reith haben im Pfalzklinikum begonnen, Gitarre und Schlagzeug zu spielen. Es gibt eine eigene Band. „Inzwischen sind wir so gut, dass wir nach drei Übungsstunden die Lieder können“, erklären Röber & Reith, deren eigene „Show“ erst wenige Wochen alt ist. Das Studio ist professionell ausgestattet, sodass Aufnahmen auch selbst am Computer geschnitten werden können. „Diese Zeiten sind wie Urlaub im allgemeinen Therapieplan und machen unglaublich Spaß“, sagen die jungen Musiker und Radiomacher.

 

Therapeutische Effekte beim Radiomachen

Natürlich hat aber auch das Mitwirken am Peilsender einen (musik)therapeutischen Hintergrund. „Hier lernen unsere jungen Leute, Regeln zu befolgen, einander ausreden zu lassen, einander zuzuhören, andere zu respektieren“, sagt Saskia Schmitt. Wer nicht selbst am Mikro sitzen will, kann CD-Player bedienen oder Mischpulte, Tablets anschließen, Telefonanrufe entgegennehmen. Sind mehrere gemeinsam im Studio, etwa als Band, gilt es darauf zu achten, wessen Mikro gerade an ist und nicht einfach mit einer eigenen Meldung herauszuplatzen, auch wenn der andere vielleicht langsam redet und mehr Zeit braucht. Wer schüchtern ist, Angst vor Bewertung hat, kann Erfahrungen damit sammeln, wie es ist, sich zu zeigen. Manchmal hält die Musiktherapeutin im Studio auch eine Einzelstunde ab: Gespräche werden aufgezeichnet – entweder, um das Gesagte später nochmal anhören zu können, oder um den Inhalt zu einem anderen Zeitpunkt zu senden: „Das kann dann schon mal ziemlich persönlich werden“.

Denn schließlich wird das Studio auch genutzt, um nicht nur über Dinge zu reden, sondern auch mehr ins Fühlen zu kommen. „Mit Musik geht das viel leichter“, erklärt Saskia Schmitt. „Wir beschäftigen uns dann mit Songs, die vielleicht alte Wunden aufreißen und warum das so ist.“ Im Fokus geht es dann auch um Lieder aus der ,alten Zeit‘, wie auch Röber & Reith die Phase ihrer Drogensucht nennen. In der ,neuen Zeit‘ der Therapie durchforsten sie gemeinsam mit Saskia Schmitt die Inhalte, um die es im Hip-Hop, Rap und vor allem im frauenfeindlichen, Gewalt und Drogen verherrlichenden Gangsta-Rap geht. „Das wurde einfach viel konsumiert, ohne genauer hinzuschauen“, sagt Saskia Schmitt. Ihre Schützlinge wissen heute, dass vieles davon „ohne Sinn“ ist und distanzieren sich in den Sendungen deutlich etwa vom Drogenkonsum. Manchmal bekommen sie eine E-Mail von jugendlichen Hörern aus anderen Abteilungen der Psychiatrie, die ihnen schreiben, dass sie davon selbst in Zukunft vielleicht doch lieber die Finger lassen. So inspiriert der Peilsender auch zur Selbsthilfe.

 

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Foto: Reith, Röber und Schmitt © Pfalzklinikum

Ein Radioprogramm für alle

Ausgerechnet die Corona-Pandemie hat dazu beigetragen, dass der Peilsender sehr viel mehr Aufmerksamkeit und eine Erweiterung erfahren hat. Sonntagsmorgens überträgt er live den Gottesdienst aus der Klinikkirche. Schon Sechsjährige aus der Kinderklinik der Psychiatrie haben feste Sendeplätze, psychotische Jugendliche bekommen hier Sendezeit, junge Patientinnen und Patienten mit Essstörungen, einer Autismus-Spektrum-Störung oder etwa Schulverweigernde. Für demenzkranke Patientinnen und Patienten der Gerontopsychiatrie werden alte Schlager gespielt. Jeder Tag hat einen anderen musikalischen Schwerpunkt, von Hip-Hop über Elektro bis Reggae und Ska. Es gibt Interviews, Bands aus der Region waren schon zu Gast. Auch das klinikeigene Bienenprojekt, bei dem Patientinnen und Patienten sich als Imkerinnen und Imker einbringen können, wurde gerade in einer Reportage vorgestellt.

Saskia Schmitt sagt:

„Ich beobachte immer wieder, wie musikalisch talentiert die jungen Menschen sind, die zu uns kommen. Sie sind nur nie gefördert worden. Bei uns erleben sie zum ersten Mal, dass jemand auf sie eingeht.“

Einige ihrer „Ehemaligen“ schicken ihr ab und zu eigene Songs und berichten ihr, dass die Musik ein wichtiger Teil in ihrem Leben geblieben ist. Vielleicht kann sie auch für diejenigen, die jetzt noch im Maßregelvollzug auf Station sind, in Zukunft ein Anker sein. Denn klar ist ihnen allen: „Die größte Herausforderung ist es, abstinent zu bleiben, irgendwann eine eigene Wohnung zu finden und Arbeit.“

Behandler

Wo ist der Radiosender zu finden?

Der Peilsender hat eine eigene UKW-Frequenz und ist rund um Klingenmünster auf 87,9 MHz zu hören. Zusätzlich ist er weltweit im Internet empfangbar unter peilsender.radio.de.

Psychiatrie so zeigen, wie sie wirklich ist

Dezentral, auf Augenhöhe und ressourcenorientiert: Moderne Psychiatrie sieht ganz anders aus als im Hollywood-Film. Um mehr Menschen davon zu überzeugen und Hemmschwellen abzubauen, haben Lisa Merkel und Alexander Joniks, Trainees für die obere Führungsebene im Pfalzklinikum, zusammen mit Kolleginnen und Kollegen einen Podcast gestartet. Er heißt „anders.echt.normal“.