Hinweis
Alle Diagnosen sind in einem weltweit ankerkannten System klassifiziert: der „International Statistical Classification“ (kurz ICD, auf Deutsch: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme). Dieses System wird regelmäßig überarbeitet, wobei sich Krankheitsbezeichnungen ändern können. Seit 2022 gilt die Version ICD-11. In dieser heißt „Autismus“ neu „Autismus-Spektrum-Störung“. Beide Begriffe werden jedoch während einer Übergangszeit zwischen ICD-10 und ICD-11 noch verwendet. vvvvvvv
Was ist eine Autismus-Spektrum-Störung?
Bei der „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) oder auch „Autismus“ handelt es sich um eine neurogenetische Entwicklungsstörung. Sie geht mit Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie stereotypen, sich wiederholenden Verhaltensweisen einher.
Der Begriff „Autismus“ leitet sich vom griechischen Wort „autós“ („Selbst“) ab: Betroffene gelten als vor allem auf sich selbst bezogen und haben Schwierigkeiten, mit anderen Menschen umzugehen, Empathie zu entwickeln und sich in sie einzufühlen. Sie können häufig verbale und non-verbale sowie emotionale Signale nicht deuten und selbst einsetzen. Ihre Reaktionen auf andere Menschen wirken daher zum Teil unangemessen und das soziale Miteinander fällt ihnen schwer. Bei den stereotypen, sich wiederholenden Verhaltensweisen handelt es sich zum Beispiel um Ordnungsvorlieben, Spezialinteressen und ritualisierte Abläufe, die den Tag vorhersagbar machen sollen.
Die Ausprägung des Autismus kann unterschiedlich stark sein und die sozialen Anpassungsfähigkeiten unterschiedlich stark einschränken. Etwa in der Hälfte aller Fälle einer ASS tritt neben den autistischen Kernsymptomen eine verzögerte oder gestörte Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten auf. Umgekehrt sind bei der anderen Hälfte der Personen mit ASS die intellektuellen Fähigkeiten normal.
Nach aktuellem Forschungsstand wird angenommen, dass eine ASS stark genetisch bedingt ist. Sie beginnt stets im Kindesalter und wird üblicherweise auch dann diagnostiziert. Manchmal wird sie jedoch übersehen und erst im Erwachsenenalter festgestellt. Dann spricht man von spätdiagnostiziertem Autismus.
Für Menschen mit ASS/Autistinnen und Autisten wird auch der Begriff neurodivergent verwendet. Neurodivergenz bezeichnet unterschiedliche Abweichungen der Gehirnfunktionen von einer gesellschaftlich festgelegten Norm. Unter den Begriff der Neurodivergenz fällt auch die Aufmerksamkeitsdefizit/-Hyperaktivitätsstörung ADHS, die auch bei Personen mit ASS vorkommen kann.
Welche Formen einer Autismus-Spektrum-Störung gibt es?
Mittlerweile werden alle Formen von Autismus unter dem Begriff „Autismus-Spektrum-Störung“ zusammengefasst, da sie sich in den Kernsymptomen überschneiden. Früher wurden verschiedene Einzeldiagnosen unterschieden – in Abhängigkeit davon, ob auch Störungen der intellektuellen Entwicklung (Intelligenzminderung) und des Sprachvermögens vorliegen (frühkindlicher oder Kanner-Autismus, Asperger-Syndrom). Heute werden Schwierigkeiten im Bereich der Sprache und intellektuellen Fähigkeiten zusätzlich erfasst und eingeschätzt.
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Welche Symptome treten auf?
Die Symptome können stark variieren. Kennzeichnend sind unter anderem:
- Anhaltende Defizite bei der Einleitung und Aufrechterhaltung sozialer Kommunikation und wechselseitiger Interaktionen
- Das Verständnis und der soziale Gebrauch von Sprache sind eingeschränkt
- Nonverbale Verhaltensweisen wie Augenkontakt, Gestik oder Mimik können reduziert sein und passen nicht zur gesprochenen Sprache
- Metaphern oder Witze werden nicht (gut) verstanden
- Mangel an Empathie, also der Fähigkeit, sich in Personen ohne Autismus einzufühlen
- In Gesprächen steht statt dem Aufbau einer Beziehung der sachliche Austausch von Informationen im Vordergrund
- Bereits in Kindheit und Jugend: Schwierigkeiten, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen und aufrecht zu erhalten
- Auffallende, sich wiederholende und rigide Verhaltensmuster, Aktivitäten oder Interessen. Betroffene können sich dadurch nicht oder nur schlecht an Veränderungen anpassen; neue Erfahrungen sind für sie so kaum möglich
- Beharren auf Routinen wie Essenszeiten oder den immer gleichen Wegen
- Ritualisierte Verhaltensmuster wie zum Beispiel das exzessive Sortieren von Gegenständen
- Extreme Über- oder Unterempfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen wie Geräuschen, Licht, der Beschaffenheit von Kleidung oder Nahrung, Gerüchen, Geschmäckern, Temperaturen oder Schmerzen
Woran erkenne ich, ob ich an einer Autismus-Spektrum-Störung leide?
Wichtig ist: Auch wenn eine Autismus-Spektrum-Störung bisher nicht diagnostiziert wurde, muss es Hinweise darauf in Ihrer Kindheit gegeben haben. Fragen Sie Eltern, Verwandte oder ältere Geschwister nach Ihrem Verhalten, um Ihre Situation besser einordnen zu können. Weiterhin müssen bei einer ASS viele Symptome zusammenkommen. Diese Fragen können Ihnen bei den Überlegungen eventuell weiterhelfen:
- Meiden Sie Blick- und Körperkontakt?
- Haben Sie Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen, können Sie deren Körpersprache und Emotionen nicht deuten?
- Kommt es häufig zu Missverständnissen mit anderen Personen?
- Müssen Sie sich bewusst daran erinnern, zu grüßen oder zu überlegen, welche Absichten und Wünsche andere Personen wohl haben könnten?
- Fällt es Ihnen schwer, bildliche Sprache und Humor zu verstehen?
- Müssen bestimmte Rituale in Ihrem Leben unbedingt eingehalten werden (wie zum Beispiel der immer exakt gleiche Ablauf beim Verlassen des Hauses)?
- Gelten Sie als sonderbar?
- Fühlen Sie sich von Reizen wie Licht, Lärm, Menschenmassen oder auch von eigenen Gedanken und Emotionen schnell überfordert?
- Wurde bei Ihnen eine Depression oder Angststörung diagnostiziert, aber die hier genannten Punkte beschreiben besser, was Sie an sich bemerken? Oder führen die hier genannten Punkte dazu, dass sie ängstlich oder depressiv geworden sind?
Wie erkennt eine Ärztin oder ein Arzt, ob ich an einer Autismus-Spektrum-Störung leide?
Wird eine ASS im Kindesalter übersehen und erst im Erwachsenenalter festgestellt, gilt sie als spätdiagnostizierter Autismus. Beim Verdacht darauf sollte dies bei spezialisierten Stellen abgeklärt werden. Zuständig sind Fachärzte und -ärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Mitarbeitende in einer auf Autismus spezialisierten Klinik oder Spezialambulanz.
Im Rahmen der Diagnostik werden die Schwierigkeiten und Beschwerden einer Person sorgfältig erfragt, um zu prüfen, ob die Kriterien für ASS erfüllt sind oder nicht. Dazu gehört auch, die Grundschulzeugnisse der betreffenden Personen zu sichten. Es wird geprüft, ob sich darin Hinweise auf Schwierigkeiten in den sozialen Interaktionen finden lassen. Zentral ist auch, eine so genannte Fremdanamnese einzuholen. Dabei werden die Eltern der betreffenden Personen zur Entwicklung des Sozialverhaltens in der Kindheit und Jugend befragt.
In der klinischen Untersuchung wird außerdem überprüft, ob autistische Verhaltensweisen vorliegen und dies ggf. durch standardisierte testpsychologische Verfahren ergänzt. Auch das Testen der kognitiven Funktionen kann Bestandteil einer Autismusdiagnostik sein.
Steht die Diagnose fest, kann dies für die Betroffenen und Angehörigen entlastend wirken. Zusätzlich kann es für Angehörige hilfreich sein, sich Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe zu suchen oder sich im Curamenta-Forum auszutauschen. In Kursen zur Psychoedukation können Angehörige etwa in Rollenspielen üben, wie sie am besten auf das Verhalten des Menschen mit ASS reagieren. Dazu gehört, möglichst eindeutig und klar zu kommunizieren und es nicht persönlich zu nehmen, wenn der andere keinen Augenkontakt hält. Eine ruhige Umgebung kann helfen, um Reizüberflutungen und damit eventuell verbundene Aggressivität bei den Betroffenen zu vermeiden. Veränderungen in täglichen Abläufen sollten rechtzeitig angekündigt werden, damit Menschen mit einer ASS genug Zeit haben, sich darauf einzustellen und das anfängliche Gefühl der Überforderung zu überwinden.
Aus medizinischer Sicht ist es nicht möglich, eine Autismus-Spektrum-Störung zu heilen. Dies liegt daran, dass Autismus die Persönlichkeitsstruktur der Menschen betrifft. Außerdem verfügen Menschen mit ASS neben autismustypischen Schwächen im Bereich der sozialen Interaktion auch über Stärken im logischen Denken und in der Wahrnehmung, die nicht geheilt, sondern als Ressource angesehen werden sollten.
Je nach Ausprägung und Schweregrad können psychotherapeutische Ansätze dazu beitragen, die soziale Interaktion und Kommunikation zu trainieren sowie sprachliche und kognitive Fähigkeiten zu fördern. Damit kann die gesellschaftliche Teilhabe verbessert werden. Im Zuge der aktuellen Debatte um „Neurodivergenz“ wird aber auch diskutiert, ob statt „Heilung“ nicht eher die „Akzeptanz des Andersseins“ und der Vielfalt des Menschseins im Vordergrund stehen sollte. Dazu würde gehören, etwa bessere Bedingungen am Arbeitsplatz für Menschen mit ASS zu schaffen.
Neben der Unterstützung hinsichtlich autismusspezifischer Schwierigkeiten darf die Behandlung von häufig vorliegenden, psychischen Begleiterkrankungen (vor allem Depression und Angststörungen) bei Personen mit einer ASS/Autismus nicht vergessen werden. In diesem Bereich bestehen die gleichen Möglichkeiten und Erfolgsaussichten wie bei Personen ohne Autismus.
Ideal für sie sind regelmäßige, strukturierte Abläufe und konkrete Arbeitsanweisungen. Der Arbeitsplatz sollte reiz- und störungsarm sein. Es kann entlasten, im Homeoffice zu arbeiten oder allein in einem eigenen Büro. Der Trend hin zum Großraumbüro sowie zum Agilen Arbeiten mit wechselnden Teams und immer schneller wechselnden Aufgaben kann in besonderem Maße überfordern und Symptome verstärken. Auch die ungeschriebene Regel, gemeinsam mit anderen die Mittagspause in der lauten Kantine zu verbringen, kann dazu beitragen. Passen die Bedingungen jedoch, gelten Menschen mit ASS als äußerst gründlich und zuverlässig.
Nichts geht mehr: Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung reagieren auf Reize viel sensibler als andere. Bei einer Überflutung mit sensorischen Eindrücken schalten sie zum Teil regelrecht ab. Dies wird als „Autismus-Shutdown“ bezeichnet. Betroffene ziehen sich dann in sich selbst zurück. Sie sind nicht mehr ansprechbar und äußern sich von sich aus nicht mehr. Eine reizarme, abgedunkelte Umgebung und Ruhe können lindernd wirken.
Nach dem ersten Lebensjahr lassen sich – je nach individuellem Ausprägungsgrad –beginnend erste Symptome beobachten. Im Verlauf der kindlichen Entwicklung können diese mehr und mehr zunehmen. Hinweise für Eltern sind etwa, wenn ihr Kind auf sie und andere Menschen nicht reagiert oder vorwiegend Dinge fixiert, nicht auf seinen Namen hört oder Augenkontakt vermeidet. Später können (Klein-)Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung dazu neigen, Gegenstände aneinander zu reihen oder bestimmte Bewegungen wie Schaukeln und Gehen auf den Zehenspitzen ständig zu wiederholen. Eventuell verlernen sie bereits erworbene Fähigkeiten wieder, sprechen unklar oder nicht in ganzen Sätzen. Andere Kinder werden von ihnen ignoriert, später kann ein ausgeprägtes Festhalten an Routinen hinzukommen.
Eltern sollten nicht davon ausgehen, dass sich diese Verhaltensweisen „verwachsen“, sondern frühzeitig ihren Kinderarzt/ihre Kinderärztin darauf ansprechen, der/die an eine Fachperson aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie überweisen kann. Je eher eine fundierte Diagnostik erfolgt, desto eher kann eine spezifische Therapie beginnen und umso erfolgreicher kann diese dann auch je nach Typ und Schweregrad der Störung werden.