Im Alter mehren sich körperliche Beschwerden und ziehen nicht selten psychische Erkrankungen nach sich. Andersherum können psychische Erkrankungen körperliche Beschwerden auslösen oder verstärken. Die Krux: Vielem, was auf den ersten Blick dem Alter zugeschrieben wird, liegt eine behandelbare Erkrankung zugrunde und sollte nicht klaglos hingenommen werden. Mit diesen Zusammenhängen beschäftigt sich die Gerontopsychiatrie. Warum ältere Menschen die speziell auf sie zugeschnittene Versorgung benötigen und wie sie helfen kann, erklärt Dr. Martine Grümmer, Chefärztin der Abteilung Gerontopsychiatrie und Ärztliche Direktorin der LVR-Klinik Düren.
Frau Dr. Grümmer, was ist Gerontopsychiatrie?
Die Gerontopsychiatrie befasst sich mit den psychischen Erkrankungen von Menschen ab 65 Jahren. Dazu gehören vor allem Depressionen, Ängste, psychosomatische Störungen, kognitive Störungen und Demenzerkrankungen sowie auch Alkohol- und Tablettenabhängigkeit.
Wieso braucht es für ältere Menschen eine eigene psychiatrische Versorgung?
Im höheren Lebensalter haben psychische Erkrankungen oft andere Auslöser, Symptome, Verläufe und Behandlungsoptionen. Depressionen etwa können genauso bei jungen Menschen auftreten. Im Alter werden die Symptome aber nicht immer als Ausdruck einer Depression erkannt, sondern zu Unrecht dem normalen Alterungsprozess zugeschrieben. Auch liegt der Symptomatik manchmal ein realer Verlust zugrunde: Der Ehemann stirbt oder soziale Beziehungen werden weniger. Vielleicht wollen die eigenen Kinder mit einem nichts zu tun haben und erlauben keinen Kontakt zu den Enkeln. Hinzu kommt der Verlust an Mobilität: Vieles geht nicht mehr so wie früher, die Menschen erleben sich als wenig autark und abhängiger von anderen. Körperliche Einschränkungen und Erkrankungen können deshalb gerade bei älteren Menschen schneller zu einem psychischen Leiden führen, wenn es ihnen schwerfällt, diese Veränderungen zu akzeptieren.
Welche körperlichen Erkrankungen sind das zum Beispiel?
Manchmal sind es Schmerzen, Rückenschmerzen etwa, oder das Hören und Sehen klappt nicht mehr so gut. So etwas macht einen unleidlich, man zieht sich zurück, unternimmt nicht mehr so viel, ist dadurch noch weniger aktiv. Vielleicht hat man sich sein Leben lang zu wenig bewegt, der ohnehin altersbedingte Muskelabbau kommt dazu und irgendwann kann so auch die Gefahr zu stürzen realer werden. Wer unbeweglicher ist, kann seine Thrombosestrümpfe nicht mehr selbst gut anziehen, um etwa Blutgerinnseln vorzubeugen. Hoher Blutdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen können – unzureichend behandelt – zu Gefäßschäden führen und manchmal auch zu einer vaskulären Demenz. Depressive Episoden wiederum erhöhen das Risiko für eine Demenz wie die Alzheimer-Erkrankung. Insgesamt machen sich jahrzehntelanger Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, Rauchen oder zu viel Alkohol irgendwann bemerkbar. Der Körper verzeiht viel, aber nicht alles.
Sind ältere Menschen insgesamt anfälliger für psychische Erkrankungen?
Ja und nein. Ja und nein. Ältere Menschen können auch eine höhere Resilienz besitzen und gesünder sein, weil sie in ihrem Leben schon viele Krisen erfolgreich bewältigt haben. Das gibt einem eine Grundsicherheit, und schöne Erinnerungen kann einem niemand mehr nehmen. Die Glücksforschung sagt, dass Menschen zwischen 65 und 75 Jahren im Schnitt sogar am glücklichsten sind. Andererseits steigt das Risiko, soziale und gesundheitliche Verluste zu erleben.
Wie kann Gerontopsychiatrie älteren Menschen helfen?
An erster Stelle steht die Diagnose: Liegt eine behandelbare Erkrankung vor oder „nur“ eine altersbedingte Einschränkung? Und welche Behandlung ist für diesen Menschen in dieser Lebenssituation die angemessene? Nicht immer sind Medikamente der einzige und richtige Weg. Oft können das Auffüllen leerer Vitaminspeicher, eine gesunde Ernährung, eine passende Hilfsmittelversorgung oder der Aufbau eines Unterstützungssystems Symptomatik und Lebens-qualität erheblich verbessern. Auch Psychotherapie weist hier sehr gute Erfolge auf und wird bei älteren Menschen zu Unrecht viel zu selten in Anspruch genommen. Ein übergeordnetes Ziel ist der Erhalt der Autonomie der Patientinnen und Patienten. Es geht uns in der Behandlung nicht so sehr darum, alles bis in die frühe Kindheit aufzurollen, sondern um die Möglichkeiten im Hier und Jetzt. Wie kann ein erkrankter Mensch, wenn es sein Wunsch ist, so lange wie möglich zuhause wohnen bleiben oder wieder mobiler und gesünder werden, wieder interessierter am Leben teilnehmen? Wir haben uns als Gesellschaft an den Gedanken gewöhnt, dass im Alter ein Verlust an Beweglichkeit, mental und körperlich, normal sei. Ich bin aber überzeugt, dass diese Lebensphase nicht schicksalshaft so sein muss. Jeder Mensch sollte sich daher fragen, was für ihn „normal“ ist und mit was er sich zufrieden geben möchte. Und es gibt Hoffnung auf ein gutes und möglichst gesundes seelisches Altern, wenn man sich früh genug für eine Behandlung öffnet und aktiv mitarbeitet.
Was hält die Menschen womöglich davon ab, die Hilfe der Gerontopsychiatrie in Anspruch zu nehmen?
Die Angst, dass Defizite aufgedeckt werden, dann keine Aussicht auf Besserung besteht und man von der Psychiatrie aus direkt ins Heim müsse. Wie gesagt, sind unser Ansatz und Ziel genau das Gegenteil: Wir achten auf vorhandene Ressourcen und suchen Möglichkeiten, möglichst lange selbstbestimmt zu leben.
Wie sieht die Therapie in der Gerontotherapie ansonsten aus?
Je nach Erkrankung setzt sie sich aus verschiedenen Facetten zusammen: Medikamentöse Behandlung, Gesprächstherapie, Ergotherapie, Bewegungs- und Physiotherapie. In Gruppen-therapien werden unter anderem soziale Fähigkeiten geübt, Informationen zu Erkrankungen und Symptomen vermittelt und Freude miteinander erlebbar gemacht. So geht es in der Behandlung auch darum, wieder zu lernen, nicht nur über die eigene Befindlichkeit zu reden, sondern sich wieder für andere und für Anderes zu interessieren, auf das Gegenüber einzugehen und einander zuzuhören. Unsere Patientinnen und Patienten lernen Entspannungstechniken und üben, sich auf Positives zu fokussieren. Man kann sich darüber beklagen, dass die Nachbarin nervt oder sich freuen, wie gut die Blumen im Park gerochen haben. Es ist eine Entscheidung, die man bewusst treffen kann.
Welche Rolle haben die Angehörigen, etwa die erwachsenen Kinder?
Die Rollen und Interaktionen der Eltern und der Kinder zueinander ändern sich im Laufe des Lebens. Oft fällt es den Beteiligten schwer, dies für sich anzunehmen. So tun sich die Eltern häufig schwer damit, ihren Kindern die notwendige Entscheidungskompetenz zu überlassen – und den Kindern fällt es manchmal schwer, die Eltern geschwächt und hilflos zu sehen. Auch haben sich Verhaltensweisen und Gesprächsmuster etabliert, die wenig hilfreich sind. Manche Kinder kommen ihre Eltern zum Beispiel vorrangig besuchen, wenn diese Probleme haben. Manche Eltern haben sich darum daran gewöhnt, über Beschwerden zu berichten und nicht über Schönes zu sprechen oder sich für die Belange der Angehörigen zu interessieren. Wir ermuntern Angehörige stattdessen, sich auch unabhängig von Krisen und Jahrestagen Zeit füreinander zu nehmen, um bewusst auch schöne Erlebnisse miteinander zu ermöglichen.
Warum ist es wichtig, auch anfängliche Beschwerden ernst zu nehmen?
Frühzeitig erkannt, kann man sehr viel tun. So lässt sich etwa eine dementielle Erkrankung mit Medikamenten und Aktivitäten in manchen Fällen verhindern, bzw. heilen oder zumeist im Verlauf erheblich verlangsamen. Wir können zum Beispiel auch abklären, ob sich hinter dem Symptom der Vergesslichkeit ein Vitamin-Mangel verbirgt. Unbehandelt kann sich daraus eine irreversible Demenz entwickeln, rechtzeitig erkannt aber erlangt der Mensch seine geistige Klarheit zurück. Auch eine Störung des Abflusses des Gehirnwassers im Kopf kann zu dementiellen Symptomen führen; wird der Abfluss zeitnah wiederhergestellt, gehen die Symptome in der Folge weg. Umgekehrt können zum Beispiel Entwässerungstabletten, die jemand wegen hohen Blutdrucks nimmt, bewirken, dass der Wasserdruck in den Gefäßen des Gehirns zu stark sinkt und ein Mensch deshalb unkonzentriert wird und sich nicht mehr gut an Dinge erinnern kann. Wir versuchen dann, hier einen Mittelweg zu finden. Vielleicht sind die Beine dadurch etwas dicker, aber der Mensch ist geistig wach und klar.
Wo kann der Einzelne selbst ansetzen?
Zentral ist die Früherkennung. Bei anderen Erkrankungen ist das jedem bewusst, aber bei psychiatrischen Störungen sind die modernen Behandlungsmöglichkeiten auch manchen Hausärztinnen und Hausärzten noch nicht ausreichend bekannt. Manchmal hört eine Person, die etwa über Gedächtnisstörungen oder über allgemeinen Kräfteverlust klagt, das sei „eben das Alter“. Klagen älterer Menschen werden oft nicht ernst genommen. Damit sollte man sich aber nicht zufriedengeben, egal, ob es um die körperliche oder mentale Gesundheit geht.
Worauf würden Sie speziell achten?
Das Gehirn braucht Anforderungen und reagiert auf Stimulationen, das ist so bis ins hohe Alter. Wer schlecht hört und deshalb nicht mehr so viel mitbekommt, den würde ich zu einer Spezialistin oder einem Spezialisten für Hals-Nasen-Ohren-Erkrankungen schicken, damit ein entsprechendes Hörgerät verordnet wird. Wer schlecht sieht, braucht eine angepasste Brille – auch, damit es nicht zu Stürzen kommt. Tanzen, wobei man sich im Rhythmus bewegt und sich in sozialer Interaktion befindet, ist wie Physiotherapie für den Kopf. Gehen und gleichzeitig singen oder Überkreuzbewegungen und dabei einfache Rechenaufgaben lösen ist wie Kraftfutter fürs Gehirn. Wir gehen immer individuell vor: Wer Wortfindungsstörungen hat, dem würde ich raten, im Chor zu singen, weil so mit Sprache geübt wird. Bei nachlassendem Gedächtnis können sogenannte „Eselsbrücken“ helfen, die Defizite zu kompensieren.
Was halten Sie von Sudokus?
Wer oft Sudokus und Kreuzworträtsel löst, kann gut Sudokus und Kreuzworträtsel lösen. Dies ermöglicht aber nicht, das Erlernte auf andere Bereiche zu übertragen. Und darum sollte es hier ja gehen. Das Gleiche gilt für Fernsehen. Besser ist es, etwas mit anderen Personen zu unternehmen, beispielsweise zu spielen, Freude zu haben, sich zu bewegen und Schönes zu erleben. Auch das Sichbeschäftigen mit den Enkeln, mit ihnen zu spielen und zu lachen, ist besser als so manche Tablette. Schließlich bringen einen Kinder in unerwartete Situationen, auf die man flexibel reagieren muss. Das hält geistig fit und lebendig.
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