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„Gesunde Geschwister leiden oft an Schuldgefühlen“

Komplexer geht es kaum: Die Huntington-Krankheit führt zu neurologischen, psychiatrischen und kognitiven Symptomen. Die größte Expertise in Deutschland für die unheilbare Erbkrankheit hat sich das Team des kbo-Huntington-Zentrum Süd in Taufkirchen bei München erworben. Oberärztin Dr. Alzbeta Mühlbäck schildert, wie sich die Krankheit zeigt, wie sie mit psychischen Erkrankungen zusammenhängt und wie das Zentrum Betroffene und Angehörige individuell unterstützt. 

 

Frau Dr. Mühlbäck, die Huntington-Krankheit gehört zu den sogenannten seltenen Erkrankungen, die nur eine kleine Zahl von Menschen betreffen. Was kennzeichnet die Krankheit? 

Tatsächlich handelt es sich um eine seltene Krankheit, die aber doch relativ häufig vorkommt: In Deutschland ist einer von 10.000 Menschen davon betroffen. Sie gehört zu den Erbkrankheiten und es reicht, wenn ein Elternteil daran leidet, um mit einem fünfzigprozentigen Risiko selbst die Genmutation zu haben. Das Leiden ist sehr komplex, weil es neurologische, psychiatrische und kognitive Beeinträchtigungen hervorruft. Deshalb wird statt von, Chorea Huntington‘ inzwischen immer mehr von, Huntington-Krankheit‘ gesprochen. Das griechische Wort, Chorea‘ bedeutet Tanz und bezieht sich nur auf die besonders auffälligen neurologischen Symptome wie unwillkürliche, zuckende Bewegungen, unter denen Betroffene leiden. Derzeit können wir sämtliche Symptome nur lindern, die Krankheit aber nicht heilen. 

 

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Dr. Alzbeta Mühlbäck
Foto © Privat; Dr. Alzbeta Mühlbäck

Welche psychiatrischen Symptome können auftreten? 

Möglich sind alle Symptome psychischer Erkrankungen: Depressionen, manische Phasen wie bei einer Bipolaren Störung, Ängste, Zwänge, Psychosen. Daneben treten Persönlichkeitsveränderungen und Persönlichkeitsstörungen wie Impulskontrollstörungen auf. Die Betroffenen waren vielleicht immer freundlich und interessiert am Leben. Plötzlich verhalten sie sich aggressiver, ungeduldiger, sind schneller frustriert oder ziehen sich zurück.

 

Wie kommt das? 

Die Krankheit wird davon hervorgerufen, dass die Basalganglien im Gehirn kleiner werden. Das sind Ansammlungen von Nervenzellen, die sich tief im Großhirn und im Mittelhirn auf beiden Seiten befinden. Als eine Art Umschaltknopf empfangen sie Nervenimpulse sowohl aus dem Großhirn als auch aus dem peripheren Nervensystem und regulieren so komplexe Bewegungsabläufe und andere Funktionen. Arbeiten sie nicht mehr richtig, kann das sehr vielfältige Auswirkungen haben. In der Regel treten die psychischen Symptome zuerst auf. Nach etwa zehn Jahren folgen neurologische Beschwerden wie choreatische Bewegungen und damit verbundene Gangschwierigkeiten, Sprach- und Schluckstörungen und parallel kognitive Einbußen. Die Betroffenen verlieren etwa die Fähigkeit zu planen. Später kommt der Verlust der Sprache hinzu.

 

Da die psychischen Symptome zuerst deutlich werden: Führt das zu Fehldiagnosen?

Es kommen viele Patientinnen und Patienten zu uns, die jahrelang wegen Depressionen, Angsterkrankungen, Bipolarer Störung, Persönlichkeitsstörung und -veränderung in Behandlung waren, auch in der Psychiatrie. Erst wenn die Bewegungsstörungen hinzukommen, fällt auf, dass es sich womöglich um eine andere Erkrankung handelt.

 

Können etwa Depressionen auch sekundär auftreten, weil es sehr belastend ist, mit der Erkrankung umzugehen? 

Natürlich. Die Huntington-Krankheit ist in jeder Hinsicht eine Familienkrankheit. Betroffene können Depressionen und andere psychische Störungen entwickeln. Ebenso Angehörige, also Partnerinnen und Partner, die sich oft um die Pflege kümmern. Und schon allein als Kind in einer Familie aufzuwachsen, in der ein Elternteil die Huntington-Krankheit hat, ist nicht leicht. Wird dieses Kind erwachsen, erfährt es dann, mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit selbst zu erkranken. Das ist eine enorme seelische Belastung. Es wird aber wenig davon gesprochen, wie man damit umgeht, potenziell eine Erbkrankheit zu haben. Wir helfen auch Geschwistern von Betroffenen, die Schuldgefühle entwickeln, weil sie selbst nicht betroffen sind, der Bruder oder die Schwester aber schon. Am kbo-Huntington-Zentrum Süd in Taufkirchen haben wir 25 Jahre Erfahrung damit, all diese Menschen zu begleiten.

 

Ihr Zentrum gilt als einzigartig in Deutschland. Was zeichnet es aus?

Wir bieten bei uns nicht nur eine neurologische, sondern auch eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung für Menschen mit der Huntington-Krankheit und ihre Angehörigen an: ambulant, aber im Akutfall auch stationär. Das gibt es sonst nicht. In all den Jahren haben wir uns auf spezifische Aspekte der Psychotherapie bei der Huntington-Krankheit konzentriert und diese weiterentwickelt, vergleichbar der Psycho-Onkologie bei Krebserkrankungen. Da viele Patientinnen und Patienten oder Angehörige weit weg wohnen, findet unsere Beratung und Behandlung in der Ambulanz zu siebzig Prozent telemedizinisch statt. Manchmal schaltet sich der Neurologe, die Neurologin am Wohnort der Behandelten mit dazu. Das funktioniert sehr gut.

 

Wie sieht die Behandlung darüber hinaus aus?

Da die Krankheit so vielfältig ist, gestalten wir das immer individuell und nach Bedarf. Die Betroffenen begleiten wir in jeder Phase, bis hin zu den schwersten Symptomen und bieten auf Wunsch auch eine palliative Behandlung an. Neurologische und psychiatrische Beschwerden können wir medikamentös lindern, ebenso etwa Ängste oder Depressionen. Auch Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie können körperliche Symptome hinauszögern oder leicht bessern. Jüngere Betroffene versuchen manchmal, mit Amphetaminen die Antriebslosigkeit zu überwinden. Ihnen helfen wir, nicht in die Drogensucht zu rutschen oder aus ihr wieder herauszufinden. Insbesondere auch die Angehörigen klären wir intensiv über die Erkrankung auf und verweisen immer auf das umfassende Selbsthilfe-Angebot der Deutschen Huntington-Hilfe, die Betroffene auch zu uns schicken.

 

Wie können Sie Menschen unterstützen, die sich fragen, ob die Krankheit bei ihnen ausbrechen wird?

Es gibt die Möglichkeit, bei uns eine genetische Beratung zu erhalten und einen Gentest zu machen. Man weiß es vorher nicht. Wir haben Familien mit drei Kindern und sie alle tragen das mutierte Gen nicht. In anderen Familien sind alle drei betroffen. Vor dem Gentest bieten wir eine ausführliche Beratung an. Das ist uns sehr wichtig, damit die Ratsuchenden selbstständig eine Entscheidung treffen können und um Strategien zu entwickeln, wie sie mit dem womöglich positiven Ergebnis umgehen können. Manche wollen es wissen, andere schieben die Entscheidung auf, weil sie gerade mitten in der Berufsausbildung stehen, es ihnen gut geht und sie sich einen Funken Hoffnung bewahren wollen, nicht betroffen zu sein. Die ersten Symptome treten meist zwischen 35 und 45 Jahren auf. Manchmal zeigt der Gentest aber auch, dass jemand zwar Mutationsträger ist, aber die Krankheit erst im hohen Alter ausbrechen wird, das diese Menschen aus anderen Gründen vielleicht gar nicht erreichen.