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„Mädchen und Frauen passen sich stark an“

Sie leiden unter Depressionen, Ängsten oder Zwängen, doch das sind bei manchen Mädchen und Frauen die Folgen einer unentdeckten Autismus-Spektrum-Störung. „Die Dunkelziffer der Betroffenen ist hoch“, sagt die Psychologin Dr. Dagmar Evers von der LVR-Klinik Viersen, die sich für eine bessere Diagnostik des weiblichen Autismus einsetzt. Denn dieser äußert sich ganz individuell und zumeist anders als bei Jungen.

 

Frau Dr. Evers, was sind die größten Irrtümer in der Gesellschaft hinsichtlich Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) bei Mädchen und Frauen?

Viele haben immer noch die stereotype Vorstellung von einem ,Rainman‘ im Kopf: von autistischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die in der Ecke sitzen, flattern, nicht kommunizieren können oder aber den Savants, die mit einer Inselbegabung auffallen. Ich bin in vielen Jahren noch keinem begegnet, der prozentuale Anteil ist sehr gering. Es wird jedoch immer offensichtlicher, dass wir eine deutlich höhere Anzahl von autistischen Menschen in der Gesellschaft haben. Dazu gehören auch mehr Mädchen und Frauen als bisher angenommen. Sie erfüllen selten das klassische Kriterium der eingeschränkten Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit.

 

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Foto: ©Pexels

Wie äußert sich ASS denn bei Mädchen und Frauen?

Zunächst einmal scheinbar gar nicht. So können sie zum Beispiel Blickkontakt halten, was aber oft nur antrainiert ist. Denn die betroffenen Mädchen passen sich sehr stark an, wir nennen das auch ,camouflieren‘ oder ,maskieren‘. Sie sind meist eher nach innen gerichtet und entsprechen mehr den sozialen Rollenklischees des Helfens und Versorgens. Im Kindergarten wirken sie zurückhaltend, eher künstlerisch begabt, sie können sich stundenlang beim Malen beschäftigen. Das fällt im Vergleich zu einem Jungen, der lärmt, nicht auf. Besonders profitieren sie von einem Bezugskind wie einer Freundin, die immer begleitend da ist und Sicherheit vermittelt. Spätestens beim Übergang in die weiterführende Schule zeigt sich dann, dass diese Mädchen, obwohl normal oder hochintelligent, Schwierigkeiten haben, dem Unterricht zu folgen und im Setting Schule zurechtzukommen. 

 

Wie kommt das?

Studien haben gezeigt, dass gerade Mädchen mit ASS sehr hypersensitiv sind. Sie leiden viel stärker als Jungs unter Lautstärke, Geräuschen, Gerüchen. Menschen um sie herum werden als Reiz und Stress erlebt, denn sie sind in ihrem Verhalten nicht vorhersehbar. So ein Kind muss sich also etwa in der Schule durch den Lärmpegel und die Gerüche um es herum vorne auf den Lehrer, die Lehrerin und den Unterricht konzentrieren, was maximal anstrengend ist. Diese Art Reize wahrzunehmen und zu verarbeiten, lässt sich schwer mit den Anforderungen unserer für neurotypische Menschen gestalteten Welt vereinen. Daher kann sich bei Betroffenen ein autistisches Burnout entwickeln. Spätestens in der Pubertät stellen diese Mädchen fest, dass sie anders sind als die anderen. Die langjährige Freundin interessiert sich jetzt für soziale Kontakte, für Emotionales, für Shoppen und Jungs, was die autistischen Mädchen eher uninteressant finden. Sie fühlen sich außen vor und leiden darunter, denn sie verstehen nicht, warum das so ist.

 

Mit welchen Symptomen kommen betroffene Mädchen denn zu psychologischen Fachleuten oder in eine psychiatrische Klinikambulanz?

Sie kommen häufig mit Komorbiditäten, also diagnostizierbaren Erkrankungen, die zu der Grunderkrankung hinzukommen. Das sind häufig Stresssymptome, Erschöpfungszustände, Ängste, Depressionen, Zwänge, Essstörungen. Auch starke Stimmungsschwankungen und Selbstverletzungen wie bei einer Borderline-Störung kommen vor. All diese Symptome werden oft fälschlicherweise für die primäre Erkrankung gehalten und entsprechend falsch diagnostiziert und auch therapiert. Dabei ist das autistische Wahrnehmen und Erleben oft die Ursache für die Entstehung und die Ausprägung der komorbiden Störung und darf entsprechend nicht vergessen werden. Leider führt die Zuordnung der Symptome zu Störungsbereichen wie Depressionen, Ängsten oder auch Posttraumatischen Belastungsstörungen oft zu einem Ausschluss von Autismus-Spektrum-Störungen anstatt diese als Entstehungsursache zu verstehen. Um aber den Verdacht auf ASS zu erhärten, muss ich mir auch die Denk- und Empfindungsstruktur der jeweiligen Person anschauen. 

 

Wieso spielt Denken und Empfinden eine so große Rolle?

Ein autistisches Gehirn arbeitet anders als das neurotypischer Menschen. Das vorausschauende Denken ist beeinträchtigt, oft auch die Fähigkeit, sich zu organisieren und zu strukturieren. Der Aufmerksamkeitsfokus ist detailorientiert. Autistische Menschen wissen oft nicht, dass andere Menschen ihre Probleme gar nicht kennen. Dass diese zum Beispiel keine Angst haben, im Supermarkt den Ausgang nicht zu finden. Sie erschließen sich nicht, dass sie andere fragen könnten, da sie ja annehmen, dass diese es auch nicht wissen – und aus der Angst heraus, im Kontakt nicht zu wissen, was sie sagen sollen. 

 

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Foto: ©AdobeStock

Sie gehören zu den wenigen Expertinnen und Experten in Deutschland, die sich auf den weiblichen Autismus spezialisiert haben. Wie gehen Sie bei der Diagnostik vor?

Ich habe vor Jahren schon angefangen, entsprechende Aspekte zu sammeln und danach zu fragen. Die Inhalte stimmen sehr mit den ersten diagnostischen Screening-Fragebögen für ASS bei Mädchen und Frauen überein, die 2020 in Australien und 2023 in den Niederlanden erschienen sind. Beide Instrumente sind noch nicht ins Deutsche übersetzt. Dies macht deutlich, wie viel in diesem Bereich noch zu tun ist. Viele nehmen weiterhin an, dass ASS eine Krankheit mit einer bestimmten Symptomlage ist, die immer genau so auftritt. Aber das stimmt nicht. Die Anzahl und Ausprägung der Symptome ist individuell und vielfältig und erfordert genaues Hinsehen, Hinterfragen und Einordnen.

 

Wonach fragen Sie konkret?

Die Anamnese und der Verlauf sind besonders wichtig. So erinnern sich Eltern auf Nachfragen vielleicht, dass die Tochter schon früh reizüberflutet war und sagen etwa: ,Wir konnten nie auf eine Familienfeier gehen. Wenn der Tag nicht nach Schema F verlief, war das zu viel. Im Kindergarten hat sie immer nur mit einem Kind gespielt und ewig lang gemalt. Nach dem Kindergarten war sie erschöpft von den Kontakten und musste viel schlafen.‘ So findet man die Linie. Zudem ist ASS das Störungsbild mit der höchsten genetischen Grundlage: Entsprechend findet man auch häufig in der Familie selbst Hinweise, die aber nicht gleich einer Diagnose entsprechen. Ich kenne viele Frauen, die bei sich anteilig autistische Verarbeitung- und Verhaltensweisen sehen, die sich dann ab und an ein Gespräch erbitten. Denn viele Hilfsmaßnahmen und Strategien für autistische Menschen können sie ja genauso anwenden.

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Kinofilme wie „Rainman“ oder „Wir Wochenendrebellen“ machen eine breitere Öffentlichkeit mit der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) vertraut. Wie viel von den Handlungen Fiktion oder Wahrheit ist, erklärt Prof. Leonhard Schilbach in dieser etwas anderen „Filmkritik“. Der Psychiater und Neurowissenschaftler ist Chefarzt und stellvertretender ärztlicher Direktor am LVR-Klinikum Düsseldorf und leitet auch die dortige „Ambulanz für Störungen der sozialen Interaktion und Autismus im Erwachsenenalter“.