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Virtuelle Realität: Therapie mit Datenbrille

Virtuelle Realität bildet die Wirklichkeit dreidimensional nach. Wer über eine entsprechende Datenbrille in diese Welt eintaucht, bewegt sich darin wie im echten Leben – inklusive der Emotionen, die gewisse Situationen hervorrufen können. Daher wird die Technik nicht nur bei Computerspielen eingesetzt, sondern zunehmend auch in der Therapie von Angststörungen. Wie kann etwas, das es nicht real gibt, dabei helfen, Ängste zu reduzieren?

Wer an einer Angststörung leidet, versucht meist, angsterzeugende Situationen zu vermeiden. Dadurch gewöhnen sich Betroffene Verhaltensweisen an, die sie im Alltag vor erhebliche Probleme stellen können – etwa, wenn sie öffentliche Plätze nicht betreten oder Fahrstühle nicht benutzen. Bei ihrer Behandlung hat sich die kognitive Verhaltenstherapie als besonders wirksam erwiesen, zu der die Expositionsbehandlung gehört.

Professor Dr. Peter Zwanzger, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie und Psychosomatik am kbo-Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg am Inn, erklärt:

Dabei muss die Patientin oder der Patient in die Situation gebracht werden, die sie oder er fürchtet. Unterstützt wird dieser Vorgang durch psychotherapeutische Begleitung.

 

Die Simulation der Angstreize

Es kann allerdings sehr aufwendig sein, solche Situationen im Rahmen einer Therapie herzustellen, etwa bei der Angst vor Höhe oder vor sozialen Kontakten. Abhilfe schafft hier die Virtuelle Realität, kurz VR. Mit einer Datenbrille simuliert sie genau die reizstarken Szenarien, in denen Betroffene sich ihrer Angst oder Sucht stellen können. „Viele kennen bereits die Möglichkeiten der VR in Computerspielen, bei denen sich die Spielenden eine Brille mit integrierten Bildschirmen aufsetzen und sich so in eine Szene hineinversetzen“, sagt Zwanzger. Wie die Technik auch für therapeutische Zwecke genutzt werden kann, daran forscht er bereits seit Jahren erfolgreich. In seinen Behandlungen nutzt er sie regelmäßig. „Mit VR können wir Situationen einfach simulieren: Die Patientin oder der Patient setzt sich eine Brille auf und kann sofort mit den Übungen beginnen“, sagt Zwanzger. Denn in den virtuellen Umgebungen können sich die Behandelten frei bewegen, mit Charakteren oder Dingen interagieren und so ihre eigenen Verhaltensweisen ausprobieren.

 

Konfrontation mit dem virtuellen Angstreiz

„In meinem Szenario sollte ich einem Menschen, der etwas von mir will, ‚Nein‘ antworten und bei meiner Haltung bleiben“, erzählt Patientin Melanie Hofmann*. Sie wird wegen einer Angststörung im kbo-Klinikum in Wasserburg am Inn behandelt und durfte die VR-Therapie ausprobieren. „Die Brille startete, und ich stand in der Lobby eines Hotels, in der sich viele Menschen aufhielten. Mit einem Joystick bewegte ich mich vorwärts und begegnete einem unsympathisch aussehenden Menschen, der mir ganz nahe kam und mich nach Geld fragte. Darauf musste ich antworten und je nachdem, wie ich geantwortet habe, fiel dann die nächste Frage aus“, so Hofmann. Dass die Menschen in dieser Situation nur Computeranimationen waren, hatte auf die Patientin keinen Einfluss. Für sie fühlte sich die Begegnung absolut echt an. Was Hofmann an der VR besonders gut gefällt, ist die Möglichkeit, das Szenario anzupassen.

Diese Dosierung gibt es in der Realität so nicht. Meine Therapeuten konnten per Programm die Intensität steigern, beispielsweise wie lange ich dem Kontakt ausgesetzt bin, welche Fragen gestellt werden und wie harmlos oder aufdringlich sich die Figur verhält.

Begleitet wurde Melanie Hofmann bei ihrer virtuellen Therapie von zwei Psychologen und Peter Zwanzger. Jederzeit hätte sie signalisieren können, das Programm zu beenden, falls die Angst zu groß geworden wäre. „Die Therapeuten haben immer wieder gefragt, wie es mir geht und ob ich weitermachen will. Am Schluss wurde die Figur in meinem Szenario etwas patzig, wünschte mir unfreundlich ‚einen schönen Tag‘. Ich ihm nicht, dazu war er mir zu patzig, und dann entschieden die Therapeuten, das Programm zu beenden“, berichtet Hofmann.

 

Der virtuelle Reiz ist mit dem realen vergleichbar

Dass sie die VR-Therapie als absolut echt empfindet und sich dabei so fühlt, als passierte das Szenario wirklich, entspricht den Erfahrungen von Professor Zwanzger: „Wir haben die Wirkung der virtuellen Szenarien untersucht. Dabei konnten wir feststellen: Egal, ob es sich um ein Szenario im Fahrstuhl, eine soziale Begegnung oder die Konfrontation mit einer Spinne handelt – bei den Erkrankten wird tatsächlich ein Reiz ausgelöst, der nahezu vergleichbar mit dem echten Erlebnis ist“, erklärt er.

Der Psychotherapeut und seine Kolleginnen und Kollegen haben mittlerweile eine ganze Bibliothek mit virtuellen Szenarien aufgebaut, die in drei Simulatoren der Klinik genutzt werden können. Leidet eine Patientin oder ein Patient beispielsweise an sozialer Unsicherheit, kann das Behandlungsteam aus einer Reihe von Situationen auswählen und diese sogar noch individuell auf die betroffene Person abstimmen. „Einen sehr unsicheren Menschen lassen wir beispielsweise einen Passanten auf der Straße treffen, der ihn um Feuer für eine Zigarette bittet“, erzählt Zwanzger. „Die Art und Weise, wie diese Interaktion abläuft – ob der Passant höflich, aufdringlich oder gar unverschämt ist – lässt sich vorab einstellen und ganz den Bedürfnissen der behandelten Person anpassen.“

 

VR macht Therapien einfacher und individueller

Doch nicht nur bei Ängsten und Phobien, sondern auch bei Suchterkrankungen lässt sich die Virtuelle Realität als therapeutische Technik einsetzen. In einem 2022 eigens dazu geschaffenen Forschungsprogramm erprobt Zwanzger die Möglichkeiten bei diesem Krankheitsbild. Im Rahmen der Expositionstherapie soll die VR auch Suchterkrankten bei ihrem zentralen Problem unterstützen: ihrer Reaktion auf suchtauslösende Reize.

Betroffene glauben häufig von sich selbst, dem Alkohol widerstehen zu können. Doch in Gesellschaft oder bei anderer Gelegenheit mit Alkohol konfrontiert, werden sie schwach. „Sie müssen lernen, mit solchen Situationen umzugehen und zu erkennen, was es in ihnen auslöst, wenn sie beispielsweise andere beim Zuprosten sehen. Und statt mit den Betroffenen in eine Bar zu gehen, ist der Einsatz der Datenbrille für uns Therapeuten natürlich viel einfacher“, erklärt Zwanzger.

Datenbrillen werden immer leichter und leistungsfähiger. Doch nicht nur die Technik entwickelt sich weiter – auch die Akzeptanz bei den Patientinnen und Patienten steigt. Für sie ist die VR eine hervorragende Ergänzung. Jedoch: Die Brille allein macht noch keine Therapie. Zwanzger gibt zu bedenken:

Ohne dass die Szenarien sachkundig konfiguriert und die Betroffenen in jedem Moment der Behandlung therapeutisch begleitet werden, funktioniert es nicht.

*Name von der Redaktion geändert