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Eine Erkrankung wie jede andere: Wie teilstationärer Alkoholentzug aus der Sucht heraushilft

Immer mehr Menschen entwickeln eine Alkoholabhängigkeit. Obwohl es sich bei Alkohol um eine legale Droge und bei der Abhängigkeit um eine Erkrankung wie jede andere handelt, ist damit häufig eine Stigmatisierung verbunden. Gerade auf dem Land ist deshalb die Hürde, sich medizinische Hilfe zu suchen, immer noch sehr hoch. Das Angebot des teilstationären und ambulanten Entzugs an der kbo-Lech-Mangfall-Klinik Agatharied in Oberbayern möchte daran etwas ändern. Oberarzt und Psychiater David Hölscher leitet beides und berichtet von seinen Erfahrungen.

 

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David Hölscher kbo
Foto David Hoölscher © Tobias Zangl

Herr Dr. Hölscher, Sie bieten an der kbo-Lech-Manfall-Klinik Agatharied teilstationären Alkoholentzug an. Wie funktioniert das?

Die Patienten kommen um 8 Uhr morgens auf die Station, nehmen an allen therapeutischen Angeboten teil und gehen dann um 16 Uhr nach Hause, wo sie auch übernachten. Wir geben ihnen die Entzugsmedikation mit, die sie auch stationär bekommen hätten, um ihnen den Entzug zu erleichtern und einem möglichen Delir oder einem epileptischen Anfall vorzubeugen. 

 

Eignet sich das für jeden?

Nein. Wir gehen nach einem Ampelsystem vor, das unter anderem Einwilligungsfähigkeit, weitere körperliche und psychische Erkrankungen, Dauermedikationen, aktuelle Entzugszeichen und den möglichen Konsum anderer Suchtmittel abfragt. Die Zeichen sollten auf Grün und dürfen unter Umständen auch auf Gelb stehen. In Einzelfällen entscheiden wir, Patienten nach drei Tagen auf Station in den teilstationären Entzug ,umzuswitchen', wenn sie nicht viel Entzugsmedikation gebraucht haben und die Stimmung gut ist. Ebenso ist es denkbar, nach einem längeren stationären Entzug auf teilstationären Entzug umzustellen. All das entscheiden wir immer individuell mit dem Patienten.

 

Welche Voraussetzungen müssen noch erfüllt sein?

Zuhause muss eine Hilfsperson anwesend sein, meist ist das der Partner. Dieser muss unterschreiben, dass er sich dieser Aufgabe gewachsen fühlt. Er oder sie übernimmt schließlich hochgradig Verantwortung. Deshalb klären wir ausführlich über Alarmzeichen auf: Vielleicht ist der Alkoholkranke auf einmal spätabends komisch verwirrt, weiß nicht mehr, wo er ist, hat den Eindruck, der Boden bewegt sich, oder Tierchen krabbeln auf ihm herum. Das sind alles Hinweise auf ein Delir, dass auch unter Entzugsmedikation auftreten kann. Für solche Situationen oder einen epileptischen Anfall bekommt die Hilfsperson eine Notfallnummer.

 

Wie stellen Sie sicher, dass der Partner nicht ko-abhängig ist und Ihrem Patienten oder Ihrer Patientin doch abends die Schnapsflasche hinstellt?

Wir klären das im Vorgespräch mit der Hilfsperson. Da geht es dann auch um Eigenverantwortung. Ich kann und möchte nicht immer ,Mäuschen spielen'. Außerdem müssen die Patienten morgens eine Urinprobe abgeben. Darin lassen sich noch drei Tage lang Abbauprodukte von Alkohol nachweisen. Und ich sage immer: Leute, es gibt bei mir genau eine Regel: Seid einfach ehrlich. Das klappt ganz gut. Ich sage auch meist: ,Ich begleite Sie, wenn wir diesen Berg hochlaufen, wenn nötig, stupse ich Sie auch. Aber es liegt in Ihrer Verantwortung, diesen Weg zu gehen. Ich bin dabei, aber Sie schaffen das allein!' Meine Patienten schätzen das sehr.

 

Welche Rückmeldungen bekommen Sie von den Patienten, Patientinnen nd den Angehörigen?

Da ist vor allem sehr viel Dankbarkeit, dass jemand sie ernst nimmt und auf Augenhöhe behandelt.

 

Wollen die Patienten und Patientinnen denn immer den teilstationären Entzug?

In der Regel möchten sie auf der Station aufgenommen werden und dort auch möglichst lange bleiben. Wir nennen das ,den Schutz der Käseglocke'. Um den Schritt hinaus in die Welt zu wagen, bietet sich dann gerade auch der teilstationäre Entzug an. Dazu gehört parallel der Beginn oder auch die Fortsetzung einer Langzeit-Psychotherapie. Den Körper kann ich in zwei, drei Wochen entgiften, aber auch im Kopf müssen die Glaubenssätze verändert werden, die zur Sucht geführt haben. Das dauert deutlich länger.

 

Was liegt dem teilstationären Entzug zugrunde?

Es gibt ein Manual mit Leitlinien, das sogenannte Haarer Protokoll. Dieses wurde von Dr. Helena de Zomer und Prof. Ulrich Zimmermann am kbo-Klinikum in Haar entwickelt. Ich war zuvor in Haar als Psychiater in der Suchtmedizin tätig, bin dann Anfang 2024 nach Agatharied gewechselt und habe den teilstationären Entzug im Mai 2024 gestartet. Im Oktober 2024 kam noch eine Suchtambulanz hinzu. Hier wollen wir mittelfristig ambulanten Entzug anbieten.

 

Aktuell ist ein ambulanter Entzug in Agatharied nicht möglich?

Das Haarer Protokoll ist sogar ursprünglich für den ambulanten Entzug entstanden. Wir wollten das in Agatharied ähnlich umsetzen, dann fiel uns jedoch ein großer Unterschied zu Haar auf: Der Ort liegt im Münchner Umland, ein großes Einzugsgebiet, in dem, prozentual gesehen, auch mehr Menschen leben, die nur leicht oder mittelgradig alkoholkrank sind. Hier im Landkreis Miesbach habe ich die Erfahrung gemacht, dass es deutlich mehr schwerst Alkoholabhängige gibt. Für sie eignet sich der ambulante Entzug nicht und der teilstationäre nur individuell angepasst.

 

Wieso könnte das aber mittelfristig eine Option werden?

Es gibt hier seit Jahren die Caritas-Suchtambulanz. Deren Angebot ergänzen wir durch eine ärztlich-pflegerisch geleitete Suchtambulanz. Bei uns können die Menschen freitags einfach vorbeischauen, ohne Termin. Das ist sehr niederschwellig. Unsere Hoffnung ist, dass dadurch mit der Zeit Menschen frühzeitiger den Weg zu uns finden, die noch nicht schwer alkoholabhängig sind und sich eine Chronifizierung verhindern lässt. Bereits jetzt ist die Nachfrage sehr hoch und das zeigt uns, wie groß der Bedarf tatsächlich ist. Als Oberarzt kann ich entscheiden, ob jemand für den ambulanten, den teilstationären oder den stationären Entzug in Frage kommt. Und ich kann so auch schneller dafür sorgen, dass ein alkoholkranker Mensch Hilfe bekommt und nicht lange auf die Behandlung warten muss. Kürzlich kam ein Patient mit seinem Bruder in die Ambulanz, er trinkt seit 25 Jahren und ist schwer krank. Montags drauf habe ich ihn stationär aufgenommen. Die Angehörigen haben sich unter Tränen bedankt, dass es so schnell geklappt hat.

 

Rückfälle sind häufig. Kann die Ambulanz daran etwas ändern?

Tatsächlich können wir die Rückfallintervalle verlängern. Wir sind dafür da, dass die Menschen drei Minuten vor dem Rückfall bei uns auftauchen, statt fünf Minuten später. Dieses Verhalten loben wir auch immer, das motiviert die Menschen zusätzlich, sie fühlen sich gestärkt darin, sich ihrer Erkrankung zu stellen. Nichts anderes ist Alkoholismus: eine Erkrankung, wie jede andere auch. Mit unseren Angeboten wollen wir dazu beitragen, dass die Stigmatisierung weniger wird und die Hemmschwelle niedriger, sich Hilfe zu suchen.