Zehn Jahre lang litt Sabrina Scharf an einer Magersucht, die sie fast das Leben gekostet hätte. Heute betreibt sie Prävention und spricht in Vorträgen vor Jugendlichen und Erwachsenen darüber, wie eine Essstörung entsteht, warum es sich für sie um eine Sucht handelt, und was ihr auf dem Weg der „Recovery“, der Genesung, geholfen hat.
Frau Scharf, auf Ihrer Website steht: ,In einer Gesellschaft, die Dich Gewicht, Kalorien und Schritte zählen lässt, sei rebellisch: Zähle Deine glücklichen Momente.‘ Wie sind Sie zu dieser Erkenntnis gelangt?
Zehn Jahre lang habe ich an Magersucht gelitten. Als ich mich schließlich auf den Weg der Heilung gemacht habe, wurde mir irgendwann bewusst, dass mich diese Essstörung die ganze Zeit an einem glücklichen Leben gehindert hat. Mit mehr Glück als Verstand habe ich überlebt, aber ich habe nicht gelebt. Diese Essstörung übernahm so sehr die Kontrolle über mich, dass ich ein ganz anderer Mensch wurde. Depressiv, aggressiv, aber nicht mehr lebensfroh wie zuvor. In dieser Phase ging es nur noch um Kalorien, mein Gewicht zu reduzieren und das gleichzeitig geheim zu halten.

Das klingt sehr anstrengend. Wie ist es dazu gekommen?
Viele denken ja nach wie vor, dass eine Essstörung in der Jugend und vor allem damit beginnt, dass man mit seinem eigenen Gewicht oder dem eigenen Aussehen unzufrieden ist. Inzwischen aber weiß die Forschung, und ich sehe das genauso, dass ein tiefer innerer Kummer einen seelisch belastet und eine Essstörung hervorrufen kann. Ich war schon Anfang 30 und bei mir war es so. Vor meiner jetzigen Ehe war ich mit einem Mann verheiratet, der eine narzisstische Persönlichkeit hatte. Er hat mich körperlich, aber vor allem auch seelisch misshandelt. Immer wieder hat er mich abgewertet, so dass mein Selbstbewusstsein kaum noch vorhanden war. Als unsere Tochter auf die Welt kam, habe ich mich von diesem Mann getrennt. Nach etwa zweieinhalb Jahren habe ich einen neuen Partner kennengelernt, mit dem ich bis heute sehr glücklich bin.
Das Glück trat in Ihr Leben, aber Sie entwickelten eine Magersucht?
Ab dem Moment, als wir zusammenkamen, konnte ich durchatmen. Doch etwas in mir hatte Angst, dieses Glück nicht zu verdienen oder es wieder zu verlieren, wenn ich nicht perfekt bin. In meiner ersten Ehe war es ja nur darum gegangen, dass ich nicht genüge. Tatsächlich hatte ich schon in meiner Kindheit und Jugend ein schwaches Selbstbewusstsein, obwohl ich nach außen hin immer stark auftrat. Deshalb habe ich schon früh versucht, als Everybody‘s Darling den Ansprüchen anderer gerecht zu werden und perfekt zu sein – eben um geliebt zu werden. All das war mir aber lange nicht bewusst. Mich damit auseinanderzusetzen, hätte mir wohl den Boden unter den Füßen weggerissen. Stattdessen habe ich eine Essstörung entwickelt. Dabei war ich zu der Zeit schlank. Bei einer Größe von 1,76 Metern wog ich 64 Kilo. Um aber perfekter zu werden, wollte ich drei, vier Kilo abnehmen. So begann es. Nach vier oder fünf Monaten sagten die ersten, ich solle mal langsam machen, ich würde nicht gesund wirken.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich habe mir selbst und vor anderen jahrelang alles schöngeredet. Irgendwann kam mir schon der Gedanke, dass etwas nicht stimmt mit mir. Auch das habe ich mir schöngeredet. Und ich habe immer mehr gelogen. Wollten Freunde mit meinem Mann und mir essen gehen, habe ich gesagt, ich hätte schon gegessen. Bei Familienfeiern habe ich vom Sonntagsbraten genommen oder abends mal eine Pizza gegessen, aber ich wusste genau, wie ich das am nächsten Tag ausgleichen muss, um nicht zuzunehmen. Ich habe viel Sport getrieben. Und weite Kleidungsstücke getragen, damit nicht auffällt, wie wenig ich wiege und meine Eltern nicht in Tränen ausbrechen. Diese Stimme in mir hat mich immer weiter angetrieben.
Was war das für eine Stimme in Ihnen?
Ich bin noch niemandem begegnet, der unter einer Essstörung litt und diese Stimme nicht kannte: Sie entwickelt sich mit der Erkrankung und wird immer lauter. Sie bestimmt das eigene Denken und sagt einem, was man essen darf und was nicht, wieviel oder wie wenig, was dick macht oder hässlich und wie viel Sport man treiben soll. Irgendwann habe ich begonnen, mich nur nach dieser Stimme zu richten, wie unter Zwang. Habe ich gegen sie gehandelt, bekam ich sofort ein unglaublich schlechtes Gewissen. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie mein Bauch unförmig wird. Es ist unvorstellbar, was da im eigenen Kopf abgeht. Deshalb habe ich oft einfach getan, was diese Stimme wollte, um meinen Frieden zu haben. Und so bin ich immer weiter hineingerutscht. Wie bei einem Drogenabhängigen kreiste mein ganzes Sein nur noch um Essen. Für mich ist eine Essstörung ganz klar eine Sucht.
Diagnostisch gelten Essstörungen nicht als Sucht, obwohl Parallelen durchaus gesehen werden. Sollte sich das ändern?
In meinen Augen ist das völlig austauschbar. Die Verhaltensweisen sind die Gleichen. Nur mit dem Unterschied, dass die Gesellschaft meint, jemand der magersüchtig ist, sollte einfach mal wieder was essen, dann wird alles gut. Bei Essstörungen gibt es viel zu wenig Aufklärung, auch deshalb wird die Gefährlichkeit unterschätzt. Mein niedrigstes Gewicht lag bei 44 Kilo, ich hatte einen BMI von 15.
Das ist lebensbedrohlich.
Was hat die Wende gebracht?
Ausschlaggebend war meine Tochter. Sie war knapp 13 und sagte mir unter Tränen, dass sie Angst um mich und mein Leben habe. Das war nach zehn Jahren der Moment, der mir die Kraft gegeben hat zu sagen: ,Jetzt ist Schluss.‘ Ich habe mir eine Therapeutin gesucht, wie schon viele Male zuvor, aber diesmal hat es richtig gepasst.

Was war anders?
Sie hat mit mir geschaut, wo mein eigentliches Problem lag. Warum behandele ich mich selbst so, zerstöre mich und nehme in Kauf, sterben zu können? Ich erkannte, wie sehr ich viele Jahre nur nach außen orientiert gewesen war. Und mit dieser Stimme in mir fehlte die Selbstliebe völlig. Nach und nach konnte ich mehr Selbstliebe entwickeln.
Wie hat sich Ihr Leben seither verändert?
Seit meine Reise der Recovery begonnen hat, achte ich mehr auf mich und setze mich auf Platz eins. Natürlich nehme ich auch Rücksicht auf andere, meinen Mann, meine Tochter, aber ich lebe zum Beispiel meinen Beruf so aus, dass es mich glücklich macht. Ich gehe viel auf Tour mit meinen Vorträgen, um über Essstörungen aufzuklären. Ein Job von 9 bis 17 Uhr im Büro liegt mir nicht. Ich muss raus, auf die Bühne, und danach bin ich erfüllt und bringe dieses Glück mit nach Hause.
Was wurde aus der ,Stimme‘?
Mit Hilfe der Therapeutin fing ich wieder an, ganz normal zu essen. Ich liebe es ja eigentlich zu essen und eine Seite in mir hat gejubelt, endlich darf ich das wieder! Aber die Stimme, die hat getobt. Beim Essen bin ich regelmäßig ausgerastet, hab geheult und geschrien, mich im Badezimmer eingeschlossen. Mit der Zeit aber wurde die Stimme leiser und leiser. Inzwischen wiege ich 54 Kilo, immer noch zu wenig. Mein Darm ist durch die lange Zeit nicht gesund und braucht Zeit. Aber ich weiß, mein Wohlfühlgewicht wird deutlich höher liegen, und es wird kommen, wenn mein Körper bereit ist.
Was hat Ihnen auf diesem Weg der Genesung, der Recovery, am meisten geholfen?
Die soziale Unterstützung. Man braucht wirklich ein Umfeld, das in der Zeit der Genesung mitspielt. Dass die Menschen verstehen, warum jemand beim Pizzaessen plötzlich in Tränen ausbricht: ,Ah, den muss ich vielleicht jetzt in den Arm nehmen und sagen, es ist okay.‘ Diese Stimme der Essstörung wurde zwar leiser, kehrte aber immer noch mal wieder zurück. Und wenn ich dann eine Heißhungerattacke bekam und sehr viel auf einmal verschlungen habe, war es unglaublich wichtig, dass jemand zu mir sagte: ‚Prima, und jetzt noch eine Tafel Schokolade, geh zur Tankstelle und kauf sie Dir!‘ Diese Erlaubnis, dieses Absegnen hat mir sehr geholfen auf dem Weg, mir es auch selbst zuzugestehen. Auf keinen Fall sollten andere einem in dieser Zeit irgendwann sagen, jetzt solle man aber erst einmal aufpassen, sonst wiege man am Ende zu viel. Damit würde nur die Stimme gefördert, die man eigentlich für immer zum Schweigen bringen möchte. Das Gewicht pendelt sich schon ein.
Gibt es etwas, das Sie durch Ihre Erkrankung gelernt haben?
Ich habe gelernt, dass es ein großes Glück ist, auf die Welt gekommen und gesund zu sein. Man hat nicht das Recht, mit brachialer Gewalt dieses Geschenk kaputt zu machen, und gleichzeitig auch das Leben seiner Mitmenschen zu zerstören. Als es mir gelang, mich von dem zu befreien, was lange Zeit Druck und Normen für mich bedeutet hatten, begann ich, viel freier zu leben. In meinen Vorträgen, gerade vor jungen Leuten, sage ich deshalb immer: ,Nehmt Eure Energie und steckt sie in eure Träume, in eure Ziele und Ihr werdet viel mehr erreichen!‘
Was raten Sie anderen Betroffenen?
Sich auf jeden Fall frühzeitig Hilfe zu suchen, bei Ärzten, Therapeuten, auch privat. Es kommt nicht aufs Gewicht an. Sondern auf diesen Moment, wo man im eigenen Körper, im eigenen Kopf spürt, dass etwas schiefläuft. Es ist wichtig, dieser kleinen inneren Stimme zu vertrauen. Denn die Essstörung führt dazu, diese Stimme mit ihrer eigenen gewaltsam zu unterdrücken. Ich bin nie in eine Spezialklinik gegangen, weil ich mir vorgemacht habe, die Kontrolle behalten zu können. Und das habe ich dank meines Umfeldes dann auch geschafft. Ich glaube aber, es ist wesentlich einfacher, die Verantwortung in so einer Umgebung abgeben zu können. Die Stimme verliert schneller ihre Macht. Die Essstörung führt zudem zu einer Mangelernährung, die auch das Gehirn in Mitleidenschaft zieht. In einer Klinik wird man auch aufgepäppelt und so überhaupt erst therapiefähig.