Simple speech

Die Klinik kommt jetzt nach Hause

Was, wenn ein stationärer Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung nötig wäre – aber Patientinnen und Patienten aus triftigen Gründen nicht in eine Klinik gehen wollen? Zwei junge niederschwellige Konzepte drehen das Vorgehen um: bei der Stationsäquivalenten Behandlung („StäB“) und der „Zuhause-Behandlung“ besuchen multiprofessionale Teams die Betroffenen zuhause – mit nachhaltigem Erfolg und hoher Zufriedenheit auf allen Seiten.

Eine Zeitlang geht es Klaus Petermann gut. Dann aber erscheint ihm das Leben erneut grau und freudlos. Seine Depression und die Zwangssymptome sind trotz einiger vergangener Therapien zurück. Eines ist jetzt aber anders: Statt sich erneut in einer Klinik behandeln zu lassen, kommt diesmal die Klinik zu Herrn Petermann. „Stationsäquivalente Behandlung“, kurz „StäB“, nennt sich dieses noch junge Konzept einer niederschwelligen psychiatrischen Versorgung. Ein multidisziplinäres StäB-Team sucht Klaus Petermann, der eigentlich anders heißt, täglich auf. Abwechselnd kommen Psychiater, Psychotherapeutin, Pflegerin, Ergotherapeut und Sozialarbeiterin zu ihm nach Hause. Und sie bemerken sehr schnell, was bei den stationären Aufenthalten zuvor unentdeckt und daher unbehandelt blieb.

Besuche zuhause können versteckte Muster aufdecken

„Uns allen fiel auf, dass wir nie mit dem Patienten allein waren“

erinnert sich Julia Göbel-Erkan, Assistenzärztin an der LVR-Klinik Köln und Mitglied des StäB-Teams der Ambulanz in Mülheim. „Es gab eine große Abhängigkeit in der Beziehung. Seine Partnerin brauchte es regelrecht, dass Klaus Petermann bedürftig ist und trug so dazu bei, die Erkrankung aufrecht zu erhalten.“ Gemeinsame Gespräche können nun dieses systemisch bedingte Muster bewusstmachen und die Therapie ganz neu voranbringen. „Auf Station kam das zuvor nie zur Sprache, weil es für den Patienten normal war“, betont Julia Göbel-Erkan einen der Vorzüge von StäB. Oft werden für die Patientinnen und Patienten auch Gruppentherapien etwa in der Ambulanz angeboten. Eine Patientin berichtet in einem Video zum StäB-Angebot der LVR-Klinik Köln, dass ihr dies besonders geholfen habe und sie sich endlich nicht mehr „wie eine Außenseiterin“ gefühlt habe. 

Image
Florian Metzger
      Foto Florian Metzger © GDG

Das Konzept breitet sich aus

Alle Träger von Curamenta verfügen über entsprechende Teams. Allein zwölf StäB-Teams sind inzwischen für die psychiatrischen Kliniken im Erwachsenenbereich von Vitos im Einsatz. Dazu kommen Teams für Kinder und Jugendliche, weitere sind geplant. „Eine stationsäquivalente Behandlung entspricht einer vollstationären Behandlung“, erläutert Prof. Florian Metzger, Ärztlicher Direktor des Vitos-Klinikums Haina in Nordhessen. Die mit StäB versorgten Menschen seien psychiatrisch so schwer erkrankt, dass sie üblicherweise in der Klinik behandelt werden müssten, dies aus verschiedensten Gründen jedoch nicht wollten oder für sich selbst ermöglichen könnten. „Gerade mit StäB gelingt es uns, auch diese Patientinnen und Patienten zu erreichen“, so Prof. Metzger.

Gründe für StäB sind vielfältig

„Da ist die junge alleinerziehende Mutter, die sich um ihr Baby kümmern muss. Da ist die schwer depressive ältere Dame, die zwei Hunde hat, die sie ,am Leben halten‘, wie sie sagt, und die sich keine Hunde-Pension leisten kann. Da ist die Mutter eines schwer behinderten Sohnes, die durch dessen Pflege vollkommen erschöpft ist“, zählt der Psychiater auf. Er hat selbst ein StäB-Team geleitet. Manche Menschen hätten auch in der Vergangenheit negative Erfahrungen mit einem stationären Aufenthalt in der Psychiatrie gemacht und wollten schlicht nicht mehr dorthin. „All diesen Menschen kann jetzt, wenn sie es nach einem Vorgespräch möchten, geholfen werden. Sie würden sonst durchs Raster fallen“, fügt Prof. Metzger hinzu. Manchmal erhalten er und sein Team dazu Hinweise von Hausärztinnen und -ärzten, manchmal vom sozialpsychiatrischen Dienst in einer Gemeinde.

Letztlich könne ein StäB-Team individueller vorgehen als die Mitarbeitenden in einer Klinik. Prof. Metzger berichtet von einem Mittdreißiger, der wegen einer Psychose und einer damit verbundenen, immensen sozialen Phobie jahrelang nicht mehr das Haus verlassen habe. „Schritt um Schritt haben wir es geschafft, dass er wieder raus geht, seine Eltern im Nachbarort besucht, selbstständig einkauft. Er ist nicht völlig gesund, aber es ist gelungen, seine Isolation zu durchbrechen, so dass er wieder ein selbstständigeres Leben führen kann.“ Die Therapieintensität sei höher als in der Klinik, aber auch effektiver – zumal eben viele Aspekte bei den Besuchen des Teams offensichtlich werden und direkt angegangen werden könnten. Mittelfristig müssten bei StäB weniger Menschen erneut stationär behandelt werden als nach einem Klinikaufenthalt. 

Neue Wege auch für die betreuenden Fachkräfte

Jeden Tag einen Hausbesuch machen, rund um die Uhr telefonisch erreichbar sein, die unterschiedlichen Ressourcen jedes Einzelnen vor Ort aktivieren: StäB hat auch das Berufsbild der Fachkräfte stark verändert. „Für mich ist das ein Glücksfall“, sagt Stefanie Wagner, „man weiß nie, was einen am nächsten Tag erwartet, aber ich schätze die hohe Eigenverantwortlichkeit und das selbstständige Arbeiten.“ Wie viele andere empfindet sie eine hohe Zufriedenheit in ihrer Tätigkeit. Die Fachgesundheits- und Krankenpflegerin gehört zum StäB-Team der kbo-Lech-Mangfall-Klinik Garmisch-Partenkirchen in Peißenberg. Insgesamt ist für die kbo-Kliniken noch ein StäB-Team in München-Ost im Einsatz, in Rosenheim ist eines im Aufbau, in Landsberg am Lech und in Agatharied sind zwei weitere geplant.

„Wir behandeln fast jede psychiatrische Erkrankung“, sagt Stefanie Wagner. Nicht dazu gehören akute Suchterkrankungen und Psychosen sowie Selbst- und Fremdgefährdung. Zu ihren Patientinnen und Patienten fährt die junge Frau, wie alle Kolleginnen und Kollegen, mit einem neutralen Wagen, um Stigmatisierung entgegenzuwirken und das Vertrauen zu fördern. „Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass sich die Menschen schneller öffnen und einen wichtigen ersten Schritt in Richtung Gesundung eher wagen als im klinischen Umfeld“, freut sich Stefanie Wagner. Entspannungstechniken etwa, die in intensiver Einzeltherapie erlernt werden, können so direkt in den Alltag eingebaut werden. „Damit verbunden ist eine höhere Nachhaltigkeit in der Anwendung und somit mehr Wirksamkeit.“

 

Eine Behandlung mitten im Alltag

„StäB war für mich die Rettung“, bekräftigt Anna Berger, die ebenfalls anders heißt. Die Mutter zweier Söhne war 37 Jahre alt, als sie 2021 von einem der ersten kbo-StäB-Teams wegen chronischer Depressionen aufgrund traumatischer Erfahrungen in der Kindheit behandelt wurde. „Ein großer Vorteil für mich lag darin, dass ich nicht mehr, wie etwa nach einer Behandlung in der Tagesklinik, zuhause wieder mit der dortigen Situation konfrontiert wurde, sondern diese gleich mit bearbeitet wurde. Es gab keinen Bruch mehr zwischen Behandlung und Alltag“, sagt sie rückblickend. Positiv hat sie auch in Erinnerung, dass „ich erstmals im Leben nach meinen persönlichen Wünschen und Vorlieben gefragt wurde. Ich konnte den Verlauf der StäB-Sitzungen immer frei wählen, ob beim gemeinsamen Kochen, Einkaufen oder Spazierengehen“, so Anna Berger. „Ich habe mich sicher und aufgehoben gefühlt und gelernt, mit Alltagssituationen zurechtzukommen.“

StäB-Teams organisieren sich anders 

Als pflegerische Leitung trägt Sandra Grafe am Zentrum für Sozialpsychiatrie der LWL-Klinik Lippstadt die Verantwortung für das StäB-Team der LWL-Kliniken. „Eine Psychologin und ich bilden gemeinsam ein Führungs-Duo. Das war für uns am Anfang ungewohnt, auf Station unterliegt alles dem Chefarzt“, sagt Sandra Grafe. Mit den Kolleginnen und Kollegen in der Klinik stimmt sie sich ab, wenn ein Patient oder eine Patientin vielleicht doch besser mit StäB behandelt werden sollte. Für StäB werden im Team wöchentlich Therapiepläne erstellt und bei Bedarf angepasst, so dass jeder Patient, jede Patientin täglich Besuch von einem Teammitglied bekommt – egal ob Oberarzt oder Pflegekraft. „Das erfordert viel Organisation und Flexibilität“, sagt Sandra Grafe.

Steht für einen Patienten mit Angsterkrankung etwa eine „Expositionsübung“ an, können diese auch Pflegende oder eine Sozialarbeiterin mit entsprechender Weiterbildung anleiten. „Unsere Mitarbeitenden müssen sehr selbstständig sein und sicher darin, was sie tun, da sie mit den Patienten allein sind.“ Pflege in der Psychiatrie ist deutlich umfassender als in der somatischen Medizin. Es gehören etwa auch Akupunktur und Entspannungsverfahren dazu sowie „viel Beziehungsarbeit und zahlreiche Gespräche“, so Sandra Grafe. Patienten und Patientinnen seien in der Regel „begeistert“ von diesem Angebot, aber die Praktikerin kennt auch einen bisher nicht behobenen, bürokratischen Nachteil: „Unsere StäB-Patienten gelten als vollstationär bei den Krankenkassen“, berichtet sie, „das heißt aber auch, dass anderweitige Unterstützung wie pflegerische Grundversorgung oder andere ambulante Hilfen für die Dauer von StäB wegfallen.“ Das StäB-Team könne dafür jedoch weder zeitlich noch personell aufkommen. Manchmal sei es möglich, dies über Konsilscheine zu regeln, die der Klinik dann in Rechnung gestellt würden.

 

Image
Stefan Frisch
    Stefan Frisch © privat

Bürokratische Hürden führen zu neuen Ideen

Diese Einschränkung in der Versorgung hat unter anderem dazu geführt, dass sich das Pfalzklinikum in Klingenmünster, nach eigenen Erfahrungen mit StäB, frühzeitig für einen ähnlichen, aber doch alternativen Weg entschieden hat: die „Zuhause-Behandlung“. Möglich macht dies seit 2020 ein Modellvorhaben, erklärt Dr. Stefan Frisch, leitender Psychologe an der dortigen Klinik für Gerontopsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. „Bei diesem Konzept müssen wir nur mindestens einen persönlichen Kontakt in der Häuslichkeit pro Woche gewährleisten. Das macht uns flexibler“, betont der psychologische Psychotherapeut. Je nach Bedarf und Phase der Therapie können, müssen es aber nicht mehr sein. Die eingesparte Zeit komme Patientinnen und Patienten zugute, die mehr Unterstützung benötigten. Das Konzept gibt zudem gerade im ländlichen Raum mehr Möglichkeiten der Versorgung.

Er hat selbst das „Zuhause-Behandlung“-Team aufgebaut und erfahren, dass besonders ältere Patientinnen und Patienten es schätzen, ihre vertraute Umgebung für eine Behandlung nicht verlassen zu müssen. „Zudem fällt das Risiko weg für eine Infektion, das im Krankenhaus erhöht und für Ältere oft besonders problematisch ist“, so Dr. Frisch. Umgekehrt stelle sich das „Problem der Hospitalisierung“ nicht: „Manche Patienten sind gerne auf Station, weil sie so die Schwierigkeiten zuhause nicht spüren. Dabei büßen sie aber oft Kompetenzen ein, in ihrem Alltag gut zurechtzukommen.“ Im Rahmen der „Zuhause-Behandlung“ würden Patientinnen und Patienten wieder selbst für sich sorgen, sofern ihre Erkrankung dies zuließe. So erschließen sie direkt alte Ressourcen. Auch ist die Begegnung auf Augenhöhe jetzt von gegenseitiger Wertschätzung geprägt: „Anders als in der Klinik führt das zu einer neuen Autonomie bei den Patienten, sie sind jetzt Gastgeber.“ Auch das kann zur Gesundung beitragen.