Was ist Gemeindepsychiatrie? Wie unterscheidet sie sich von anderen Angeboten? Wo liegen ihre Grenzen? Antworten von Andreas Biehn und Anna Keller vom Pfalzklinikum
Herr Biehn, Frau Keller, was versteht man unter Gemeindepsychiatrie?
Andreas Biehn: Gemeindepsychiatrie ist ein psychiatrisches Angebot, das sich vor allem in den Lebensräumen der Menschen abspielt, das kann die eigene Wohnung sein oder eine Wohnform innerhalb unseres Angebots. Ziel von Gemeindepsychiatrie ist es, Menschen dazu zu befähigen, so eigenständig wie möglich ihr Leben zu gestalten und ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Wir fragen die Menschen: „Was brauchst du, um diesen oder jenen Teil deines Lebens dahin voranzutreiben, wo du ihn haben möchtest?“ Trotzdem müssen wir einen klaren Blick behalten und geben ehrliches Feedback.
Anna Keller: Um Gemeindepsychiatrie für den Laien oder die Laiin von anderen Angeboten abzugrenzen, kann man sagen: Alles, was mit Ärzten beziehungsweise Ärztinnen und Behandlung zu tun hat, findet im klinischen Bereich statt, also im Bereich des Sozialgesetzbuchs V. Da werden Diagnosen gestellt anhand von Krankheitsbildern. Und alles, was mit Gesunderhaltung, Eingliederung, Teilhabe und auch Wiedereingliederung zu tun hat, befindet sich im Feld der Gemeindepsychiatrie. Das fällt dann unter das Sozialgesetzbuch IX.
Wie kann gemeindepsychiatrische Versorgung konkret aussehen?
Biehn: Wir assistieren Menschen im Alltag, beispielsweise bei Arztbesuchen oder Behördengängen. Wenn jemand beispielsweise eine Folgebehandlung bei einem Arzt oder einer Ärztin braucht, könnte unsere Aufgabe sein, zu fragen: „Kannst du die Ärzte selbst erreichen, kommst du da eigenständig hin? Was brauchst du, damit du dir die Fahrkarte kaufen kannst? Was braucht du für den Krankenhausaufenthalt?“ Und das dann mit den Menschen zu organisieren.
Ein anderes Beispiel: Wenn ein Klient oder eine Klientin unter sozialen Ängsten leidet, kann unser Angebot sein, zu sagen:
„Melde dich, ich bin da. Komm in Kontakt.“ Dann lassen die Menschen oft irgendwann zu, dass jemand zum Hausbesuch kommt. Gemeinsam erarbeiten wir dann, was jemand braucht. Das könnte zum Beispiel sein, dass man regelmäßig zusammen spazieren oder zusammen in den Supermarkt geht und gemeinsam aushält, dass da viele Menschen sind und man sich dennoch auf den Einkauf fokussieren muss. Oder man öffnet gemeinsam Post.
Es gibt viele Dinge, die für einen Menschen zum Problem werden können. Wir unterstützen die Menschen dabei, sie zu bewältigen. Das ist auch nicht immer nur das Unangenehme. Es kann auch bedeuten, einfach mal angenehm gemeinsam Zeit zu gestalten. Alles orientiert an den Wünschen der Menschen.
Keller: Gemeindepsychiatrie kann einen Rahmen geben, Impulse setzen und die dann gemeinsam mit den Klientinnen und Klienten weiterspinnen. Ein Beispiel sind auch Teilhabezentren, wo man sich gemeinsam treffen kann. Das ist ein großer Vorteil, weil die Klientinnen und Klienten vielleicht sonst gar nicht die Möglichkeit hätten, sich irgendwo zu treffen oder sich gemeinsam zu organisieren.
Wie kann gemeindepsychiatrische Versorgung im Zusammenspiel mit ärztlicher Versorgung gelingen?
Biehn: Es ist wichtig, dass man sich gegenseitig zuhört, keine voreiligen Schlüsse zieht. Viele Ärzte und Ärztinnen wundern sich erstmal, wenn sie den Begriff Eingliederungshilfeleistung hören. Aber sobald sie merken, dass wir ihren Patienten oder ihre Patientin tagtäglich erleben, fällt auch oft so ein Satz wie: „Das könnt ihr vielleicht mehr beurteilen als ich.“ Wir müssen uns einen offenen Blick bewahren und immer wieder fragen: „Was möchte denn der Mensch, um den es eigentlich geht?“
Was sind Herausforderungen bei der Umsetzung von Gemeindepsychiatrie?
Biehn: Die größte Herausforderung ist das Stigma, das Psychiatrie anhaftet. Wenn Menschen aus dem psychiatrischen Rahmen den Weg in Gesellschaft suchen – auf dem Arbeitsmarkt oder wo auch immer – ist immer erstmal die Frage: Gibt es nicht noch einen anderen Bewerber? Aber da hat sich viel getan. Wir haben da auch viele tolle Erfahrungen gemacht. Man muss sich bewusst machen, dass wir alle nicht gefeit davor sind, in Krisen zu geraten und dass uns das nicht zu besseren oder schlechteren Menschen macht.
Eine weitere Herausforderung ist es, darauf zu achten, dass wir innerhalb unserer Strukturen keine Parallelwelt schaffen, sondern dass die Angebote gesamtgesellschaftlichen Alltag integrieren.
Außerdem müssen wir darauf achten, immer wieder ein bisschen aus unserer empfundenen Expertise herauszukommen. Wenn ich einen Menschen frage: „Was möchtest du?“, dann muss mich seine Antwort interessieren. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass wir es besser wissen. Es gibt aber auch Situationen, in denen müssen wir aus fachlicher Sicht handeln – immer dann, wenn Schaden absehbar ist.
In welchen Fällen empfiehlt es sich nicht, dass Menschen im Rahmen der Gemeindepsychiatrie versorgt werden?
Biehn: Mir fällt kein Fall ein, wo es nicht sinnvoll wäre. Es gibt Grenzen. Die Grenze kann sein, wenn Menschen mit unseren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auf persönlicher Ebene nicht auskommen – oder umgekehrt. Wo Menschen aufeinandertreffen, kann das passieren. Dann kann man gegebenenfalls Kontakt zu anderen Anbietern herstellen.
Eine andere Grenze ist es, wenn Menschen einen sehr hohen Bedarf haben und einen sehr hohen Grad an herausforderndem Verhalten zeigen. Da muss man gut überlegen, ob das ambulant zu leisten ist.
Natürlich gibt es aber auch immer Klientinnen und Klienten, die sich in erhöhtem Maße gefährdend gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verhalten oder selbstgefährdend sind. Da ist dann eher eine stationäre Behandlung gefragt.
Sie haben im Rahmen der Gemeindepsychiatrie das Modell 365° ins Leben gerufen. Wodurch zeichnet es sich aus?
Biehn: Im Rahmen des Modell 365° können wir Menschen sehr individuell unterstützen. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Wir haben beispielsweise viele Genesungsbegleiter und -begleiterinnen eingestellt, denn wenn wir wollen, dass Menschen artikulieren, was sie brauchen, dann brauchen wir viel Übersetzungsleistung. Ansonsten geben wir unseren Klienten und Klientinnen auch sehr viel an die Hand, um sich selbst zu organisieren.
Keller: Das Bundesteilhabegesetz hat viel dazu beigetragen, das Modell 365° voranzubringen, denn es hat die Grundlage geschaffen für – vereinfacht gesagt – alternative Finanzierungsformen. Vorher hat ein Klient oder eine Klientin von der Kommune eine bestimmte Summe an Stunden zugesprochen bekommen hat, die wurde dann geleistet. Wenn die Person dann stationär behandelt wurde, hat man für die Dauer des Aufenthalts die Stundenzahl entweder reduziert oder erhöht. Alles musste einzeln beantragt werden. Häufig geht das Leben aber schneller weiter als der Antrag gestellt ist.
Die neuen alternativen Finanzierungsformen kommen aus dem Trägerbudget. Das ermöglicht es uns, zu fragen, wer aktuell was braucht. Es kann ja passieren, dass ein Mensch – zumindest zeitweise – weniger Bedarf hat, dafür aber ein anderer mehr. Durch die alternative Finanzierungsform können wir darauf besser eingehen.
Wie profitieren Ihre Klientinnen und Klienten von Ihrer Curamenta-Seite?
Biehn: Unsere Curamenta-Seite bietet eine erste Möglichkeit, auf unsere Angebote zuzugreifen. Unser Einzugsgebiet hat große Unterschiede in der Infrastruktur: Wir haben städtische Räume wie Landau oder Speyer, die infrastrukturell stark sind. Gleichzeitig erstreckt sich das Gebiet bis in die Südwestpfalz, da gibt es wenig Infrastruktur. Die Menschen dort haben dann digital einen ersten Zugang.
Außerdem ist Curamenta auch eine Möglichkeit, Menschen ans Digitale heranzuführen, die davon profitieren könnten. Digitalisierung betrifft ja unser aller Leben. Oft ist auch ein spielerischer Aspekt dabei. Damit können wir dem Thema Gesundheit die manchmal übertriebene Ernsthaftigkeit nehmen. Gesundwerden und Gesundsein darf Spaß machen.
Andreas Biehn ist Projektkoordinator im Modell 365°.
Anna Keller ist Referentin der Geschäftsführung des Pfalzklinikums.