Leichte Sprache

„Der Alkohol hatte die Kontrolle“

Ganz aufhören zu trinken. Nicht nur weniger, was eh nicht funktioniert, sondern gar nichts mehr. Diese bewusste Entscheidung hat der Journalistin Nathalie Stüben geholfen, ihre jahrelange Alkoholsucht zu überwinden. Ein Gespräch über „Paradeausreden“, das Glück, die Hoheit über das eigene Leben zurückzugewinnen und Tricks, um Cravings erfolgreich die Stirn zu bieten.
 

Frau Stüben, Sie haben mit 13 Jahren zum ersten Mal Alkohol getrunken und hörten mit 30 damit auf. Da waren Sie schon seit Jahren süchtig. Wie blicken Sie heute auf die Nathalie von damals?

Ich würde sie gern in den Arm nehmen, ihr so vieles erklären und ihr die Last nehmen, die sich mit den Jahren aufgebaut hatte. Mein Leben erschien mir zuletzt so schwer, so kompliziert und traurig. Zwischen 20 und 30 sind ja eigentlich so coole Jahre, man hat endlos viel Zeit und Freiraum. Ich hatte diese Freiheit nicht, weil ich süchtig war.

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Süben-Blog
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War Ihnen bewusst, dass Sie alkoholabhängig waren?

Lange nicht. Ich hatte meine Paradeausreden. Ich dachte: ,Zitternde Hände? Hab ich nicht. Und ich arbeite ja noch und bin gut in dem, was ich tue. Und ich trinke nicht jeden Tag.‘ Bis zuletzt hatte ich alkoholfreie Tage zwischen meinen Abstürzen und ich habe auch nie gleich morgens nach dem Aufwachen getrunken. DAS war Sucht für mich. Heute leiste ich in dieser Hinsicht Aufklärungsarbeit durch mein Buch, meinen YouTube-Kanal und meinen Podcast

Wir haben ein bestimmtes Bild im Kopf und verstehen nicht, dass eine Abhängigkeit verschiedene Phasen durchläuft, dass sie sich entwickelt.

Und dass sie viel früher beginnt als mit dem Wodka zum Frühstück. Das ist ein Endstadium, das aber die meisten Betroffenen noch gar nicht erreicht haben. Als ich das verstanden hatte, merkte ich: Natürlich war ich süchtig. Wenn ich mir immer wieder vornehme, ich trinke heute nur ein Glas und dann werden drei Flaschen daraus, erfülle ich ein Kernkriterium für Alkoholabhängigkeit. In der Wissenschaft ist das glasklar, aber im Bewusstsein vieler Menschen ist das bisher nicht angekommen.

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Eines Tages haben Sie sich dann gesagt: Schluss damit! Einfach so?

Nein, nicht einfach so. Mein Leidensdruck musste schon sehr groß werden, damit ich mir das sagen konnte. Ich weiß auch bis heute nicht, warum es dieser eine Sommermorgen war, aber da habe ich zum ersten Mal beschlossen: Ich höre ganz auf. Bis dahin hatte ich mir immer nur vorgenommen, weniger zu trinken. Nun hatte ich ein anderes Ziel: Abstinenz. Ein Ziel, vor dem ich unglaubliche Angst hatte. Ich dachte, das würde sozialen Abstieg, Ausgrenzung und ein Leben voller Langeweile bedeuten. Nichts davon ist eingetreten, im Gegenteil.

 

Wie kamen Sie darauf, dass zu einem Leben ohne Alkohol ein sozialer Abstieg gehört?

Als Süchtige baut man sein Leben irgendwann um den Alkohol herum. Man sucht sich die Kolleginnen und Kollegen, die viel trinken. Intensiviert die Freizeitaktivitäten und Freundschaften, in denen Alkohol präsent ist. Klar dachte ich damals: Wenn ich da nicht mehr mitmache, dann bin ich raus. Mal ganz davon abgesehen, dass die Leute dann ja denken, dass ich ein Alkoholproblem habe. Und dann bin ich erst recht raus. So dachte ich. Ich hatte Sorge, als Alkoholikerin gelabelt zu werden. Gott, was hatte ich für eine Angst vor diesem Wort. So große Angst, dass ich die Entscheidung, aufzuhören, immer vor mir hergeschoben habe. Ich wusste damals noch nicht, dass ich mich nicht so nennen muss.

 

Was hat Ihnen die Angst vor dem Wort ,Alkoholikerin‘ genommen?

Die habe ich erst im Zuge meiner Recherchen verloren, als ich schon einige Monate nüchtern war. Da habe ich verstanden, dass es verschiedene Wege hinaus aus einer Sucht gibt. Der ‚klassische‘ Selbsthilfeansatz führt über dieses: ‚Ich bin Alkoholiker, ich werde es ein Leben lang sein und darf das nie vergessen.‘ Mich hat das total deprimiert. Aber es gibt eben auch andere Wege. Einer führt zum Beispiel darüber, Sucht als etwas zu begreifen, aus dem man herauswachsen kann. Auf diesen Ansatz bin ich unter anderem durch den Neurowissenschaftler Marc Lewis gestoßen. Und das hat alles verändert. Plötzlich richtete sich mein Blick aufs Positive, auf meine Ressourcen und auf die Chance, die mir ein alkoholfreies Leben bietet. Und so habe ich dann bewusst erlebt, wie wunderschön es ist, wenn sich die Biochemie im Gehirn wieder reguliert, und man wieder Spaß hat an Sport, an einem guten Essen. Wie großartig es ist, nüchterne Lachkrämpfe zu haben, wieder echte Verbindungen zu anderen Menschen aufzubauen, wieder Vertrauen zu sich selbst zu bekommen und sich wieder auf sich selbst verlassen zu können.

Es hat mir unglaublich geholfen, mir nicht tagtäglich zu sagen: ‚Es ist schwer, ich muss ein Leben lang verzichten, bin krank, eine Alkoholikerin.‘ Sondern mir tagtäglich zu sagen: ‚Ich liebe mein Leben, ich bin selbstbestimmt, ich bin stark und ich bin frei.‘

 

Während der Sucht fühlten Sie sich als Opfer des Alkohols?

Absolut, der Alkohol hatte die Kontrolle. Er hat meinen Alltag gestaltet, meine Gedanken bestimmt und immer wieder dafür gesorgt, dass ich mich selbst verachte, dass ich mich hasse. Zum Beispiel, wenn ich mir schwor, ich trinke heute nur ein Glas – und es wieder nicht funktionierte. Das geht so an die Substanz, an den Selbstwert. Ich bin jemand, der Dinge durchzieht. Aber das, was mir das allerwichtigsten war, das bekam ich nicht hin.

 

Sie waren nie in einer Entzugsklinik. Was hat Ihnen die Kraft gegeben durchzuhalten?

Was mich lange getragen hat, waren Podcasts. Ich habe Menschen zugehört, die den Mut hatten, über ihre Alkoholsucht und ihren Weg hinaus zu sprechen. Leute, die ihre Geschichte mit mir geteilt haben, ihre schwierigen Momente. Die mir gezeigt haben, dass ich nicht allein bin und wie es funktionieren kann. Bei ihnen habe ich mir Trost und Stabilität geholt und praktische Tipps. Das waren US-amerikanische Podcasts. Sowas gab’s damals hierzulande gar nicht. Als ich später meinen eigenen gestartet habe, war es der erste in deutscher Sprache. Und was mich noch getragen hat, war klassische Recherchearbeit, Wissen. Ich bin Journalistin, ich liebe es, mich in Themen einzuarbeiten, und das hab ich dann auch in Richtung Sucht und Genesung getan.

 

Kein kalter Entzug?

Ich war ja bis zuletzt nicht körperlich abhängig. Aber psychisch hatte ich natürlich Entzugssymptome, sogenannte Cravings. Ich habe dann aber zum Beispiel bei der Recherche gelesen, dass dieser innere Druck nur etwa 20 Minuten andauert. Dann habe ich mir einen Timer gestellt, laut „STOPP!“ gerufen und mich sofort abgelenkt, um andere Hirnbereiche zu aktivieren. Ich bin dann oft raus gegangen, um mich zu bewegen. Oder ich habe angefangen eine Schublade aufzuräumen. Dann hat der Timer geklingelt und ich dachte, wieso klingelt mein Timer? Ja, da war‘s schon durch. Deshalb ist es wichtig zu verstehen:

Cravings kommen wie Wellen, sie bauen sich langsam auf, dann denkt man, man geht darin unter, und dann ebben sie auch wieder ab. Und: Je häufiger man das übersteht, desto kleiner werden die Wellen.

Es fühlt sich mit der Zeit nicht mehr so lebensbedrohlich an. Und irgendwann ist es nur noch ein kurzes Jucken. Und es war so fantastisch für mich zu spüren, dass Strategien wie diese funktionieren. Auch das hat mich getragen: Zu merken, dass ich etwas tun kann, damit es mir besser geht. Dass ich für mich selbst sorgen kann. Schritt für Schritt hat sich so auch mein Selbstwertgefühl wieder aufgebaut.

 

Wie findet jemand die Kraft dazu, der glaubt, sie nicht zu haben?

Das denkt jeder am Anfang: Ich kann mir ein Leben ohne Alkohol nicht vorstellen. Und trotzdem schaffen es so viele. Ich rate immer dazu, anzufangen, sich damit zu beschäftigen. Podcasts zu hören, diese Geschichten von Menschen, die auch dachten, sie wären dazu nicht in der Lage. Literatur zu lesen. Dabei ist es wichtig, nach Gemeinsamkeiten zu gucken und danach, was man lernen kann. Wer noch in der Sucht steckt, neigt dazu, eher auf Unterschiede zu achten. Und irgendwann ist dann vielleicht der eine Satz dabei, der etwas Grundlegendes verändert.

 

Alkohol ist in unserem Alltag sehr verfügbar, sollte es Warnhinweise geben auf den Flaschen wie auf Zigarettenschachteln?

Das wäre eine Möglichkeit, aber laut WHO (World Health Organization, Weltgesundheitsorganisation, Anm. d. Redaktion) ist es effektiver, die Verfügbarkeit einzuschränken, die Preise zu erhöhen und ein Werbe- und Marketingverbot zu erlassen. Es geht dabei übrigens nicht um ein Alkoholverbot. Nur um eine Politik, die dafür sorgt, dass die problematischen Auswirkungen sich verringern.

 

Gab es einen Moment, wo Sie urplötzlich das Gefühl hatten, rückfällig werden zu können?

Den gab es zum letzten Mal, als ich rund ein Jahr nüchtern war. Das sage ich lieber als ,trocken‘, weil ‚trocken‘ so nach Kleinkind klingt. Ich hatte mir zu diesem Zeitpunkt schon ein neues Leben aufgebaut. Hatte meinen Mann kennengelernt, war im zweiten Monat schwanger, im Job lief‘s fantastisch und ich konnte mich auch schon wieder ganz gut leiden. Und dann, bei einem Spaziergang mit meinem Mann stieg plötzlich diese Welle in mir hoch. Du musst jetzt Trinken! Dieses Craving war wie eine kalte Klaue, die mich von hinten im Nacken packte. Ich wollte wegrennen, mich in eine Bar einschließen und trinken, als gäb‘s kein Morgen. Das war so unheimlich. 

Aber ich hatte zu dem Zeitpunkt schon so viel gelernt, dass ich stehenblieb und eine Übung machte, die mir früher schon geholfen hatte: fünf Dinge benennen, die ich gerade sehe. Vier, die ich gerade höre. Drei, die ich fühle. Zwei, die ich rieche. Eins, das ich schmecke. Also mich im Hier und Jetzt verorten. Ablenken von der Welle. Und irgendwann war es vorbei. Ich hatte den ganzen Tag noch weiche Knie, und mir wurde bewusst, ich darf nie den Respekt davor verlieren, was da in meinem Hirn los war. Aber ich habe eben auch wieder die Erfahrung gemacht, dass ich dem nicht ausgeliefert bin.